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Zikadenkönigin

Zikadenkönigin

Titel: Zikadenkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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jene Katastrophe die schlimmste – und gleichzeitig aufregendste – gewesen. Aufgrund der Feuer genoß Edo einen besonderen Ruf, und der Brand des Alten Ginza stellte etwas Einzigartiges dar. Drei Tage lang hatte jenes Feuer gewütet, bis hinab zum Fluß.
    Nach der Betrauerung der Toten machten sich die Edokko sofort an den Wiederaufbau. Dazu waren sie dauernd bereit. In Feuersbrünsten und Erdbeben sahen sie ständige Begleiter ihres täglichen Lebens. Es geschah nur sehr selten, daß irgendein Gebäude in der Unteren Stadt zwanzig Jahre lang von den Blumen von Edo verschont wurde.
    Doch es handelte sich nicht mehr um das alte Edo des Shogun, sondern das Kaiserliche Tokio. Der Gouverneur kam mit seiner pferdegezogenen Kutsche aus der Hohen Stadt und betrachtete die rauchenden Ruinen Ginzas. Die Bewohner der Unteren Stadt sprachen noch immer darüber, erinnerten sich gegenseitig daran, wie der Gouverneur die Arme ausbreitete – auf diese Weise –, wie er die Ärmel seiner aus dem Westen stammenden Kutte bis zu den Handgelenken hochschob. Wie er finster die Stirn runzelte. Die Bewohner Edos hatten sich bereits an dieses Gebaren gewöhnt, an das so überaus bedeutend wirkende Stirnrunzeln des Gouverneurs, daran, daß seine dichten Brauen bei solchen Fällen einen buschigen Bogen dicht über den Augen bildeten, in denen Zivilisation und Erleuchtung funkelten.
    Und der Gouverneur streifte die Ärmel seiner modernen Kutte noch weiter zurück, winkte großzügig und gab seinen ausländischen Architekten Bescheid. Die Engländer eilten sofort herbei und fielen wie ein Heer in den Distrikt ein. Aber sie führten nicht etwa Kanonen bei sich, sondern Karten und Diagramme, rasselnde Maschinen und Karren mit Ziegelsteinen und Mörtel. Es war, als öffnete sich der Himmel, als regnete es gleichmäßig geformte Steine auf Asche und schwelendes Holz. Große Berge aus roten Ziegeln entstanden. Waren das Häuser, fragten sich die Menschen, in denen man wohnen konnte? Es gab viele Geschichten über die Fremden und ihre sonderbaren Heime. Die langen Nasen – um angesichts der dicken Steinwände besser zu atmen. Die blasse Haut – weil Ziegel, wie es hieß, Menschen ihre Lebenskraft raubten und sie schwach und kränklich werden ließen.
    Die Rikscha hielt ruckartig an, und die Messingglocken läuteten ein letztes Mal. Der ältere der beiden Läufer schnappte nach Luft und fragte: »Ist das weit genug, Gov?«
    »Ja, in Ordnung«, erwiderte einer der beiden Passagiere und stieg aus. Er hieß Encho Sanyutei und war der Sohn und Nachfolger eines bekannten Varietékomikers. Als Fünfunddreißigjähriger hatte er sich selbständig gemacht – und bereits einen gewissen Ruf erworben. Er hatte seinem Begleiter von der Ziegelstadt Ginza erzählt, dabei die Arme verschränkt, die Unterlippe vorgestülpt und so das Gebaren des Gouverneurs von Tokio nachgeahmt.
    Die Wirkung des zuvor genossenen Reisweins war nicht ganz ohne Wirkung auf Encho geblieben, und er reichte dem älteren Läufer mehr Kupfermünzen, als nötig gewesen wären. »Hier, Kumpel«, sagte er. »Hau mal richtig auf den Putz!« Die beiden Männer deuteten eine Verbeugung an und trotteten davon, um sich in dem Ginza-Gedränge andere Kunden zu suchen.
    Ein großer Teil Tokios kam niemals zur Ruhe, und dazu gehörte auch der Yoshiwara-Distrikt, das Viertel der Geishas und billigen Absteigen. Die beiden Reisenden kamen aus dem Asakusa-Distrikt, wo es ebenfalls ständig heiß her ging: In jenem Stadtteil gab es Hunderte von Bars, Kabuki-Theater und Varietés.
    Auch die Ziegelstadt Ginza schlief nie – wenn auch aus anderen Gründen. Diesem Viertel mangelte es an dem in der Unteren Stadt herrschenden primitiven Verlangen nach Sex und Vergnügen. Die Edokko wurden von etwas anderem auf die eisenharten Straßen Ginzas gelockt, von etwas, das ebenso neu wie seltsam war.
    Gaslampen. Sie standen auf schwarzen Säulen, und ihr geisterhaftes Licht fiel auf die Menge und verdrängte den Glanz des Mondes. Insgesamt gab es fünfundachtzig solche Wunder, und sie bildeten eine lange schnurgerade Reihe, die durch ganz Ginza reichte, von Shiba bis nach Kyobashi.
    Die Edokko, die sich an den Lampen drängten, verhielten sich erstaunlich still. Von erbarmungsloser Erleuchtung wie betäubt, irrten sie durch die steinernen Straßen. Manche von ihnen trugen hohe Holzschuhe, andere geschlossene Sandalen aus Leder. Einige von ihnen waren in Hakama-Hemden oder Jinbibaori-Jacken gekleidet, und Encho sah

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