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Zikadenkönigin

Zikadenkönigin

Titel: Zikadenkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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erwiderte Encho geistesabwesend. »Mein Freund hat eine kleine Bude hier in Ziegelstadt. Eine ganz besondere Art von Absteige. Liegt ein wenig abseits.« Sie setzten ihren Weg durch Ginza fort, und Encho zog sich den Hut aus steifer Seide tiefer in die Stirn, so daß man ihn nicht auf den ersten Blick erkennen konnte.
    Er schritt langsamer aus, als sie an vier jungen Frauen vorbeikamen, die vor dem modernen Glasfenster eines Tuchladens standen. Das Geschäft war zwar geschlossen, aber die Frauen bewunderten die Puppen des Schneiders. Die Kleidung der jungen Damen entsprach mit ihrem auffallend modernen Stil fast denen der reglosen Gestalten im Schaufenster: Ihre Aufmachung bestand aus kleinen Sonnenschirmen, knapp sitzenden Reitjacken in glänzendem Purpur und weiten Röcken mit großen Turnüren. »He, nicht übel, was?« brummte Encho, als sie näher herankamen. »Die Ausländer verstehen sich offenbar darauf, Frauen hübsch zu verpacken.«
    »Frauen tragen einfach alles«, erwiderte Onogawa, hob den einen Fuß und streckte die Zehen im engen und quietschenden Lederschuh. »Ich finde einen schlichten Kimono mit einem Obi viel besser.«
    »Jedenfalls ginge das Ausziehen dann wesentlich schneller«, sagte Encho und lächelte hintergründig. Neben der hübschesten Frau blieb er stehen, einem jungen Mädchen, dessen Brauen natürlich gewachsen waren und das keine Zahnschwärze benutzt hatte: Im Licht der Gaslampen glänzten ihre Zähne weiß wie Elfenbein.
    »Verehrte Dame, verzeih mir bitte meine Kühnheit«, sagte Encho. »Aber ich glaube, ein Kätzchen ist unter deinen Rock gekrochen.«
    »Bitte?« erwiderte die junge Frau verwirrt und mit einem leichten Akzent, wie man ihn in der Unteren Stadt hören konnte.
    Encho schürzte die Lippen, und von unten erklang ein klägliches Miauen. Das Mädchen sah überrascht zu Boden und hob den Rock rasch bis zum Knie. »Ich helfe dir«, bot sich Encho an und bückte sich. »Ja, jetzt sehe ich das Kätzchen! Es klettert am Unterrock empor!« Er drehte sich um. »Du solltest mir besser zur Hand gehen, Bruder! Sieh dir das an!«
    Onogawa war so verblüfft, daß er nicht sofort reagierte. Erneut war ein leises Miauen zu hören, und Encho schob den Kopf ganz unter den Rock der jungen Frau. »Da ist es! Es will sich in der Turnüre verstecken!« Das Kätzchen fauchte laut. »Ich hab es!« rief der Komiker. Er richtete sich wieder auf und hielt die Hände auseinander. »Da ist der kleine Schlingel, an der Wand!« Encho drehte die Hände, und im Schein des Lampenlichts war an der nahen Ziegelwand ein Schatten zu sehen, der einer Katze ähnelte.
    Onogawa begann schallend zu lachen. Er taumelte an die Wand und krümmte sich, schnappte glucksend nach Luft. Die Frauen starrten ihn einige Sekunden lang groß an, und dann eilten sie fort und kicherten mädchenhaft. Diejenige aber, die Encho verulkt hatte, brach in Tränen aus.
    »Achtung!« brachte Encho hervor. »Ihr Ehemann.« Er duckte sich, holte tief Luft und preßte sich ruckartig die Hände auf die Wangen. Ein plötzlicher Trompetenstoß hallte laut über die Straße. Er hörte sich genauso an wie das schallende Fanfarensignal eines Busses von Tokio, und Onogawa zuckte unwillkürlich zusammen, blickte sich rasch um und rechnete offenbar damit, einen Fuhrmann zu sehen, der an den Zügeln seines Gespanns zerrte.
    Encho griff nach dem Ärmel seines Gefährten und zog Onogawa mit sich, bevor sich die anderen Passanten von ihrer Überraschung erholen konnten. »Hier entlang!« Sie wankten durch eine halbdunkle Gasse und setzten ihren Weg durch das Labyrinth der Ziegelstadt Ginzas fort. Onogawa lachte noch immer und bekam keine Luft mehr. Nach einigen Dutzend Metern verharrte er keuchend. »Warte!« schnaufte er, gluckste erneut und wischte sich Tränen aus den Augen. »Ich … haha … kann nicht mehr!«
    »Na schön«, erwiderte Encho ruhig. »Aber hier können wir nicht bleiben.« Er deutete nach oben. »Oder willst du etwa unter diesen Dingern stehen?« Über ihnen spannten sich dunkle Telegrafendrähte.
    Onogawa bemerkte sie erst jetzt und trat rasch zur Seite. »Kuwabara, Kuwabara«, brummte er – ein Zauberspruch, der Blitzschlag verhüten sollte. Die unheilvollen magischen Drähte gab es überall in der Ziegelstadt, und sie führten an den großen und übel riechenden Gebäuden vorbei.
    Es war allgemein bekannt, warum die Ausländer ihre Telegrafendrähte an hohen Pfählen befestigten. Auf diese Weise konnten die dämonischen

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