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Zikadenkönigin

Zikadenkönigin

Titel: Zikadenkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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auch einige modern anmutende Hosen. Da und dort fiel sein Blick auf Zylinder oder steife Filzhüte.
    Betrunken wankten der Komiker und sein Begleiter in Richtung der Lampen, und ihre polierten Lederschuhe knarrten und quietschten fröhlich. Die progressiv eingestellten Bewohner Tokios fanden gerade an dem Quietschen besonderen Gefallen, und die Schuhe Enchos und seines Gefährten verfügten über Einlagen aus ›singendem Leder‹, was den besonderen Effekt noch verstärkte.
    »Ihr Verhalten gefällt mir überhaupt nicht«, knurrte der Begleiter Enchos. Sein Name lautete Onogawa, und bis zur sogenannten ›Restauration der kaiserlichen Macht‹ war er Samurai gewesen. Doch inzwischen hatte ein kaiserliches Dekret das Tragen von Schwertern verboten, und deshalb mußte Onogawa für eine Handelsgesellschaft arbeiten, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er runzelte die Stirn und rieb sich die Nase; das daran klebende Blut war inzwischen geronnen. »Mit den modernen Rikschas ist es auch nicht mehr so, wie es einmal war. Hast du die beiden Typen gesehen? Sie haben uns angestarrt, hatten überhaupt keinen Respekt.«
    »Reg dich ab!« sagte Encho. »Es waren doch nur zwei einfache Straßenläufer. Wen kümmert's, was solche Kerle denken? Himmel, du führst dich auf, als glaubtest du, es seien zwei Aufseher des Shogun gewesen.« Encho lachte schallend und wischte sich übertrieben die Hände an der Hose ab. Die heimtückischen und überall herumschnüffelnden Spione, die einem dauernd mit konfuzianischen Litaneien kamen, gehörten jetzt ebenso der Vergangenheit an wie der Shogun selbst. Sie waren schlicht und einfach aus der Mode gekommen.
    »Aber dein Gesicht ist in der ganzen Stadt bekannt«, wandte Onogawa ein. »Was ist, wenn sie herumerzählen, daß sie uns gesehen haben? Dann wissen bald alle Bescheid, was drüben geschah.«
    »Vielleicht bekommen wir dann einige neue Verehrer«, erwiderte Encho und grinste.
    Seit der Schlägerei im Asakusa-Distrikt war Onogawa bereits ein wenig nüchterner geworden. Nach dem Auftritt Enchos kam es zu einem Handgemenge, in dessen Mittelpunkt Onogawa stand – der einige alte Bekannte hatte, denen er lieber nicht wiederbegegnen wollte. Encho bahnte sich mit den Fäusten einen Weg durch das Gedränge, lenkte die Verfolger Onogawas ab und ermöglichte seinem Gefährten so die Flucht.
    Für Onogawa war die Situation alles andere als leicht, denn er zeichnete sich durch ein ausgeprägtes Ehrgefühl aus und neigte außerdem zum Grübeln. Er war in Satsuma geboren, in einer Provinz, in der es sehr starke und eherne Samurai-Traditionen gab. Doch ein zehnjähriger Aufenthalt in der Hauptstadt hatte Onogawa verändert und ihn ebensosehr auf das Schauspiel fixiert wie die meisten Edokko. In gewisser Weise empfand es Onogawa als eine Schande, geradezu süchtig geworden zu sein nach den Spottsketchen und ironischen Rollenspielen Enchos.
    Schon seit Monaten trieb sich Onogawa mindestens zweimal wöchentlich in den Varietés Asakusas herum. Seine Frau und sein kleiner Sohn lebten in einem bescheidenen Heim Nihombashis, in einem ziemlich prüden und konservativen Viertel der Hohen Stadt in dem vorwiegend junge Bankangestellte und Beamte lebten, die ganz in ihrem Beruf aufgingen. Alte Freunde aus seiner bewegten Vergangenheit hatten ihm zu einem Posten bei einer recht erfolgreichen Handelsgesellschaft verholfen. Er hätte natürlich die Stellung in der Armee vorgezogen, doch das Heer war recht klein und nahm nur selten neue Rekruten auf.
    Gerade das war eine der größten Enttäuschungen Onogawas, und sie hatte ihn gründlich verändert. Aufgrund seiner einschlägigen Erfahrungen mit dem Gesetz wußte er, daß es kein gutes Ende nehmen würde, wenn er sich noch länger so gehen ließ. Doch bei dem Zwischenfall dieses Abends handelte es sich nicht etwa um irgendeinen Geishaskandal, über den man mit einem Augenzwinkern hinweggehen konnte, der ihm vielleicht sogar die Bewunderung einiger Leute eingebracht hätte. Statt dessen war er in eine ganz gewöhnliche Prügelei mit einfachen Bürgern geraten.
    Schlimmer noch: Er hatte es einem bekannten Bürger jenes Standes zu verdanken, daß er noch einmal davongekommen war. Onogawa konnte sich nicht dazu durchringen, seinen Gesichtsverlust hinzunehmen und sich zu bedanken. Er rückte sich den Filzhut zurecht, starrte Encho düster an und fragte: »Wo wohnt denn nun der Bursche mit dem besonderen Schnaps, den du mir versprochen hast?«
    »Hab Geduld«,

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