Zikadenkönigin
Botschafter darin nicht entkommen, um den ehrbaren Bürgern Verderben zu bringen. Es hieß, jene gespenstischen und unsichtbaren Geister sausten mindestens so schnell dahin wie Schwalben, und sie übermittelten den geheimen Zauber der christlichen schwarzen Magie. Wenn man unter solchen Drähten stand, forderte man das Unheil geradezu heraus.
Encho musterte Onogawa und lächelte schief. »Es besteht keine Gefahr, solange wir in Bewegung bleiben«, sagte er. »Es ist nicht schlimm, für kurze Zeit in der Nähe der Drähte zu verweilen. Mach dir keine Sorgen!«
Onogawa atmete tief durch und straffte seine Gestalt. »Sorgen?« wiederholte er. »Ich fürchte mich nicht.« Er folgte Encho die Straße hinunter.
Die steinernen Häuser wirkten häßlich und irgendwie formlos. Sie wiesen keine hübschen Riedvorhänge auf, und es fehlten Markisen an den übergroßen Fenstern, die mit ihrem matt schimmernden Glas aussahen wie die starrenden Augen teuflischer Wesen. Es gab keine gemütlichen Veranden, keinen Schmuck aus kleinen Bambusröhren, die die Stimme des Windes einfingen, und das Zirpen der Grillen und Zwitschern von Vögeln schienen nur noch Erinnerungen zu sein. Die beiden Männer sahen nicht einmal eine Prunkwinde Edos, nicht eine einzige Ranke von der Art, die selbst die einfachsten Hütten in der Stadt schmückte. Stumm ragten die Mauern in die Höhe, fest und massiv, wie eine wortlose Drohung. Die meisten Häuser standen leer. Zwar war ihr Bau recht teuer gewesen, und außerdem konnten sie nicht einfach niederbrennen, doch trotzdem fand sich kaum jemand bereit, darin zu wohnen. Es ging das Gerücht, die roten Ziegel raubten den Menschen ihre Lebenskraft, suchten sie mit Beriberi oder gar der Schwindsucht heim.
Steine pflasterten die Straße. Steinerne Wände erhoben sich rechts und links, vor und hinter Encho und seinem Gefährten. Wohin sie auch sahen: Überall fiel ihr Blick auf rote Ziegel. Hunderte waren es, Tausende – und noch viel mehr. »Was sind Ziegel eigentlich?« wandte sich Onogawa an den größeren Encho. »Ich meine, woraus bestehen sie?«
»Die Ausländer stellten sie her«, erwiderte Encho und zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, es handelt sich dabei um so etwas wie Töpferwaren.«
»Sind sie ungesund?«
»Das behaupten viele Leute«, sagte Encho, »aber die Fremden leben in solchen Häusern, und in der letzten Zeit hat sich die Anzahl der Ausländer nicht verringert.« Er blieb stehen. »Ah, da wären wir. Laß uns um das Gebäude herumgehen. Mein Bekannter wohnt oben.«
Sie schritten an der Außenwand des zweistöckigen Hauses entlang und sahen empor. Hinter einem der oberen Fenster verbreitete eine der alten Öllampen einen angenehm vertrauten Schein. »Sieht ganz danach aus, als sei dein Freund noch auf den Beinen«, stellte Onogawa fest, wobei seine Stimme fröhlicher klang.
Encho nickte. »Taiso Yoshitoshi schläft nicht viel. Er ist ein wenig überempfindlich. Man könnte ihn auch als seltsam bezeichnen.« Er trat an die große, mit Schnitzereien verzierte Tür heran, die, wie bei den Ausländern üblich, an zwei dicken Messingangeln hing. Dort zögerte er kurz und zog an dem Knauf einer Klingel.
»Seltsam«, wiederholte Onogawa nachdenklich. »Das wundert mich nicht, wenn er in einem solchen Gebäude wohnt.« Sie warteten.
Mit einem verhaltenen Knirschen schwang die Tür nach innen auf. Ein Mann mit zerzaustem Haar sah ihnen entgegen und hob einen schlichten Halter aus billigem Zinn, in dem eine halb heruntergebrannte Kerze steckte. »Wer ist da?«
»Ach, komm schon, Taiso!« entgegnete Encho ungeduldig. Erneut schürzte er die Lippen, und ganz in der Nähe schienen Enten zu quaken.
»Oh, du bist es, Encho-san, Encho Sanyutei. Mein alter Freund. Komm herein!«
Sie betraten den dunklen Flur, und dort blieben die beiden Besucher kurz stehen und zogen sich ihre ledernen Schuhe aus. Durch eine offenstehende Tür blickte Encho in ein nahes Zimmer und sah ein Durcheinander aus großen Papierrollen, Werkzeugkisten und flachen Ablagen. Hinter einer breiten hölzernen Presse schlief ein Lehrling und schnarchte. Die feuchte Luft roch nach Druckerschwärze und Spänen.
»Dies ist Onogawa Azusa«, sagte Encho. »Einer meiner Verehrer aus der Hohen Stadt. Onogawa, ich möchte dir Taiso Yoshitoshi vorstellen. Er ist einer der angesehensten Künstler Edos.«
»Oh, Yoshitoshi der Künstler!« entfuhr es Onogawa, der sich erst jetzt an den Namen erinnerte. »Natürlich! Sie handeln mit
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