Zikadenkönigin
erlesenen Druckprodukten. Vor einer Weile habe ich eine ganze Serie Ihrer Werke gekauft: Achtundzwanzig schändliche Morde – mit erläuternden Versen.«
»Ah,« machte Yoshitoshi. »Es ehrt mich sehr, daß Sie sich an meine ersten und eher dürftigen Leistungen auf dem Gebiet der Druckkunst erinnern.« Der Ukiyo-e-Druckkünstler war ein kleiner untersetzter Mann mit gebeugten rundlichen Schultern. Seine Wangen wirkten ein wenig aufgedunsen, und unter den Augen zeigten sich dunkle Ringe. Das kurzgeschnittene Haar wies einige lichte Stellen auf, und die Lippen waren auffallend dick. Er trug eine weiße Tunika, auf der sich einige verblaßte Muster zeigten, die Margeriten nachempfunden sein mochten. »Sollen wir nach oben gehen, meine Herren? Mein Lehrling ist müde und braucht Ruhe.«
Sie stiegen eine schmale hölzerne Treppe hinauf, deren Stufen unter ihren Schritten knarrten, und kurz darauf gelangten sie in das Arbeitszimmer Yoshitoshis, das von Öllampen erhellt wurde. An den Wänden hingen verschiedene Drucke, und einige Dutzend andere lagen zusammengerollt in Regalen oder auf dem Boden. Die Fenster waren fest verschlossen, die dicken Vorhänge davor zugezogen. Die unverhüllten Ziegelwände schienen zu schwitzen, und Encho nahm einen sonderbaren Geruch wahr, wie von Schimmel und altem Tabak. Das Fenster in der Wand zur Straße hin wies zusätzliche Läden auf, die am inneren Sims festgenagelt und mit einigen Querlatten versehen waren. »Wegen der Telegrafendrähte draußen«, erklärte Yoshitoshi, als er die verwunderten Blicke seiner Gäste bemerkte. Der Künstler deutete vage auf einige fleckige Bodenkissen. »Nehmt Platz!«
Die beiden Besucher hockten sich auf die schmutzigen und schäbigen Kissen und versuchten höflich, es sich möglichst bequem zu machen. Yoshitoshi kniete sich auf ein anderes Polster, das neben seinem Arbeitstisch lag. Auf der niedrigen Werkbank aus einfachem Kiefernholz lagen ein Tintenstift und ein Schleifstein. Daneben stand eine kleine Schale mit Wasser. Ein Bambuskorb enthielt mehrere Pinsel, einen Kompaß sowie ein Lineal. Offenbar hatte Yoshitoshi an einem dünnen, fast durchsichtigen Blatt aus Reispapier gearbeitet: Ein Muster aus feinen schwarzen Linien zeigte sich darauf.
»Nun …«, sagte Encho, lächelte und sah sich in dem eher ärmlichen Heim des Künstlers um. »Wie ich hörte, bist du in der letzten Zeit ziemlich gut zurechtgekommen. Man kann deutlich sehen, daß es dir besser geht. Du hast jetzt wieder richtige Regale. Und die Bücher lassen bestimmt nicht mehr lange auf sich warten.«
Yoshitoshi erwiderte das Lächeln. »Ach, ich habe noch immer viele Schulden – die Bücher kommen erst an letzter Stelle. Aber du hast recht: Inzwischen geht es mir weitaus besser. Ich bin wieder gesund, und ich habe ein Arbeitszimmer. Außerdem kehrte Toshimitsu, einer meiner Lehrlinge, zu mir zurück. Er ist nicht der begabteste derjenigen, die ich damals verlor, aber wenigstens der ehrlichste von ihnen.«
Encho holte eine kurze ausländische Bruyèrepfeife hervor und öffnete den Tabakbeutel, der an seinem Gürtel hing. Dabei handelte es sich um eine mit Stickmustern versehene Tasche, auf die jeder achtbare Bewohner Edos stolz gewesen wäre. Während er die Pfeife stopfte, blickte er auf und fragte beiläufig: »Hat die Kabuki-Sache was gebracht?«
»Und ob«, erwiderte Yoshitoshi und strahlte. »Ich habe Blutflecken auf die Rüstung Onoe Kikugoros des Fünften gemalt. Für seine Rolle in ›Kawanakajima-Insel‹ Ich bin dir sehr dankbar, daß du mir zu jenem Auftrag verholten hast.«
»He, das Stück kenne ich«, sagte Onogawa überrascht und erfreut. »Und es waren prächtig anzusehende Blutflecken. Noch besser als die des Mörder-Drucks Kasamori Osen – von ihrem Stiefvater bei lebendigem Leibe in Stücke geschnitten. Der Druck stammt doch von Ihnen, nicht wahr?« Onogawa betrachtete die an den Wänden hängenden Bilder, und der vertraute Stil weckte Erinnerungen in ihm. »Ein Wahnsinniger, der mit einem Messer über ein junges Mädchen herfiel, auf dessen nackten Körper überall blutige Striemen zu sehen waren …«
Das Lächeln Yoshitoshis wuchs in die Breite. »Hat es Ihnen gefallen, Herr Onogawa?«
»Nun«, sagte Onogawa, »es war zweifellos ein beachtliches Kunstwerk.« Einem Mann wie Azusa fiel es sicher leicht zuzugeben, daß er Gefallen fand an der bürgerlichen Kunst der Unteren Stadt. Ein wenig leiser fügte er hinzu: »Früher besaß ich eine ganze Reihe
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