Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid
hatte?
Vielleicht wurde in diesen Minuten ja irgendwo da draußen in der Stadt ein Mord vorbereitet. Eine Stunde – eine lange Zeit. Stood wusste sich seiner Haut zu wehren, aber er war kein unbesiegbarer Held aus dem Abenteuerfilm. Eine geschickt eingefädelte Falle an diesem undurchsichtigen Ort konnte seinem 48 Jahre währenden Leben ein jähes Ende bereiten.
Die Stadt hieß Khulna und lag im Süden des Landes, unweit der gewaltigen Mangrovenwälder. Und so war Khulna: Eine knappe Million dunkelhäutiger, ernst blickender, oft in Weiß gekleideter Menschen, Tausende von krummen Straßen in einem Gewirr aus moderner, bonbonfarbener Architektur und zerfallenden braunen Holzhütten, ein immer wieder neu sich verfilzender und entwirrender Knoten aus Fahrrädern, Rikschas, Autos und Fußgängern, die von irgendwo nach irgendwo eilten, kurz: eine Stadt, der es auf ganz furchtbare Weise an der Ruhe und Gelassenheit fehlte, die man in einem solch ursprünglichen Land zu suchen pflegte.
Der Junge mit der Zahnlücke hatte plötzlich neben ihm gestanden und war ihm bei seinem Versuch behilflich gewesen, an einer Straßenbude eine Limonade zu kaufen. Stood schätzte den schlaksigen kleinen Kerl auf fünfzehn, aber er konnte auch jünger sein. Seine oberen Schneidezähne fehlten beide – abgesehen davon sah er recht hübsch und intelligent aus. Der Junge sprach nur ungefähr zwanzig Wörter Englisch, konnte damit aber geschickt umgehen.
Irgendwann saßen sie gemeinsam unter einem Vordach und schützten sich vor einem Regenguss. Der Bursche machte keine Anstalten, ihn übers Ohr zu hauen oder ihm das Geld aus der Tasche zu ziehen, und einem Impuls folgend kramte Stood den Papierfetzen mit der Adresse aus seiner Brusttasche und reichte sie seinem neuen Freund. Wenn seine Informationen noch aktuell waren, weilte der Londoner Ethnologe Dr. Fryers in Khulna. Er hätte sich bei der Polizei nach der Adresse erkundigen können, aber um die Behörden machte er lieber einen Bogen. Die mussten nicht wissen, dass er hier war und was er hier wollte.
Wenn er den Jungen richtig verstanden hatte, hatte er versprochen, ihm in Kürze eine Skizze von der Adresse zu besorgen. Er hatte den Amerikaner an der Hand genommen wie ein Kind und ihn in die Kneipe gesetzt, die wohl einem Verwandten gehörte. Da saß er jetzt noch.
Stoods Kopf mit der Igelfrisur ruckte herum. Eine Hand hatte sich auf seine Schulter gelegt, und jetzt er blickte er in ein vertrautes Grinsen mit Loch.
„Das wird aber Zeit“, brummte der Amerikaner. „Noch eine Tasse von diesem Gesöff, und ich hätte diesem Land ein für alle Mal den Rücken zugedreht, das kannst du mir glauben!“
Der Junge drückte ihm den Papierfetzen in die Hand, den er ihm vor einer Stunde gegeben hatte. Jetzt war er vollkommen durchweicht von Schweiß oder Regen.
„Und?“ Stood hob die Schultern, griff nach dem breitkrempigen Hut, den er auf dem Tisch abgelegt hatte. „Hast du Dr. Fryers gefunden? Soll das heißen, du führst mich selbst hin, oder was?“
Der junge Einheimische verlor sein Lächeln nicht. Er tippte auf den feuchten Zettel und machte dann eine kreisende Bewegung mit dem Zeigefinger.
Stood drehte den Wisch herum, hielt ihn ins Licht einer nackten, zischelnden Glühbirne, die über seinem Tisch von der Decke hing. Auf der Rückseite des Papiers war tatsächlich eine Art Zeichnung zu sehen, sehr einfach, mit einer Tinte, die sich in runde, wolkige Flecken aufzulösen begann. Vorderseite und Hinterseite waren bei diesem nassen Papier nahezu eins geworden, und er musste die Augen zusammenkneifen, um überhaupt etwas zu erkennen.
Als Anhaltspunkt war in einer Ecke das Hotel Rupsha International eingezeichnet. Von dort aus ging ein Gekrakel von Straßen nach Süden. „Dritte Straße rechts, dann die erste links – eins, zwei, drei, vier, fünftes Haus auf der linken Seite.“ Murmelnd übersetzte er die bildlichen Informationen der Karte in Sprache. Er hatte den Eindruck, dass die Zeichnung zusehends weiter verblasste, während er sie in der Hand hielt.
Das erinnerte ihn an etwas. An ein Foto, das er einst mit einer schlechten Sofortbildkamera geschossen hatte und das mittlerweile vollständig zu grünschwarzer Farbe verschwommen war. Ein wichtiges Foto …
Er sprang auf. „Was kostet der Tee?“ Stood legte so viele Münzen auf den Tisch, wie der Einheimische Finger in die Höhe hielt.
Der Junge schien ihn nicht begleiten zu wollen, also schüttelte er ihm die Hand und
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