Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid
immer er Zeit dazu hatte, recherchierte er nun die Herkunft des Steins, doch da er außer einem kleinen Ausschnitt des Reliefmusters keine Ansatzpunkte hatte, kam er nur langsam voran.
Vor zwei Wochen erst war er auf eine Spur gestoßen, die nach Bangladesch führte. Und zu einem britischen Ethnologen, der etwas ganz Ähnliches tat wie das, was auch er vorhatte: Dr. Fryers forschte offenbar nach der Figur, deren Bruchstück Stood im Keller von Schloss Falkengrund gefunden hatte. Und er glaubte, sie in der Umgebung von Khulna lokalisiert zu haben.
Nun war Fryers tot, und Stood saß über seinen Aufschrieben, den Früchten seiner Arbeit.
Über seinen vollständigen Aufschrieben? Oder fehlte ein wesentlicher Teil?
Die Texte waren keine leichte Lektüre. Fryers hatte verschiedene Schriften sowie mündliche Informationen aus hiesigen Sprachen ins Englische übersetzt, ausgewertet und mit weitschweifigen, wenig ergiebigen Sätzen kommentiert. Der Forscher schien des Bengali mächtig zu sein, doch in ländlicheren Gebieten Bangladeschs wurden andere Sprachen gesprochen. Sprachen, die keine schriftliche Fixierung kannten und für die es keine Wörterbücher gab. So ließen sich viele immer wieder auftauchende Begriffe nicht eindeutig übertragen.
Der Brite war häufig auf ein Wort gestoßen, das er mit „Himmelstunnel“ übersetzte. Stood, für den die Begriffe „Himmel“ und „Tunnel“ einen Widerspruch bildeten, zog einen Übersetzungsfehler in Betracht. Am Ende des Himmelstunnels, so hieß es an mehreren Stellen, sei die Figur zu finden, zu der das Muster auf dem Splitter gehörte. Auch Fryers hatte einen solchen Splitter gefunden.
Über das Aussehen und die Bedeutung der Figur selbst hatte er wenig Konkretes herausfinden können. Sicher schien ihm, dass es sich um eine Gottheit handelte, eine Art primitives Idol, verehrt von einer kleinen Menschengruppe in zwei oder drei Dschungeldörfern.
Der Urwald war hier sehr nahe. Das Gebiet der Sundarbans – ein riesiger, sumpfiger Mangrovendschungel – bedeckte weite Teile von Bangladeschs Südwesten.
Fryers hatte den Namen des Gottes nicht mit Sicherheit feststellen können. Im Zusammenhang mit dem Idol war er mehrmals auf den Begriff „Asota Shuram²“ gestoßen, konnte aber nicht sagen, ob diese Worte den Gott, seinen Aufenthaltsort oder etwas ganz anderes bezeichneten. „Asota“, so wollte der Brite immerhin herausgefunden haben, bezeichne „irgendetwas Positives, Erstrebenswertes“, während „Shuram“ eher negative Konnotationen trug.
Damit konnte Stood nichts anfangen. Blinzelnd starrte er auf die kleine Zwei über dem zweiten Wort. Zunächst hatte er es für einen krakelig gezeichneten Apostroph gehalten, doch je öfter das Zeichen auftauchte, desto überzeugter war er, dass es die Ziffer Zwei sein musste. Falls die Zahl auf eine Fußnote verwies, musste sie sich auf einem Blatt befinden, das verloren gegangen war. War es in einer Schublade des Schreibtisches versteckt? Oder besaß es der Mörder des Briten? Hatte er damit die Übersetzung und Erklärung des Wortes „Shuram“? Was bedeutete es, wenn Fryers schrieb, der Begriff habe negative Konnotationen? Handelte es sich um eine Warnung?
Natürlich erinnerte Stood die kleine Zwei auch an die Potenz in der Mathematik. Shuram hoch zwei. Shuram im Quadrat. Ein Quadrat namens Shuram. Vielleicht ein bestimmter, abgegrenzter Bereich, wo sich das Heiligtum befand? Oder eine Flächenangabe? Ein Feld, ein Shuram auf ein Shuram groß?
An einer anderen Stelle war die Rede davon, das Idol stelle eine sechsarmige Göttin dar. Leider hatten Fryers wohl zu wenige konkrete Beschreibungen zur Verfügung gestanden, sonst hätte er gewiss eine Skizze angefertigt. Die einzige Zeichnung, die es in seinem Manuskript gab, war ein Muster, das dem auf Stoods Stein ähnelte. Götter und Göttinnen mit vielen Armen gab es zur Genüge im hinduistischen Pantheon. Das berühmteste Beispiel war Kali, die Schwarze, die Gattin Shivas, deren Verehrung meist mit blutigen Opfern verbunden war.
Der Amerikaner legte den Steinsplitter auf seine Handfläche und versuchte sich vorzustellen, ob er sich in den Körper einer Göttin integrieren ließ. Diese Frage war schwer zu beantworten. Falls die Statue groß genug war, konnte das Bruchstück ein Teil nahezu jeder vorstellbaren Form sein.
Stood drohten die Augen zuzufallen, und er sah er auf die Uhr. Es war beinahe vier Uhr nachts. Auch wenn er noch nicht alles gelesen hatte,
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