Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid
herausgekommen sein, oder konnte es noch einen anderen Weg geben? Er konnte schlecht an der Wand hochgeklettert sein wie Spiderman. Aber vielleicht gab es eine Abzweigung, eine Tür, die er übersehen hatte.
Es machte aber auch keinen Sinn, danach zu suchen. Rasend schnell verging die Zeit, und wohin sich der Kerl auch immer gewandt hatte, er war jetzt schon weit weg. Stood hatte nichts von ihm gesehen, nicht einmal seinen Schatten. Es war gut möglich, dass er ihn jetzt von einem der Geschäfte auf der anderen Straßenseite heraus anstierte, dass er einer der Passanten war, die sich in diesem Moment von ihm entfernten oder auf ihn zukamen.
Gib’s schon zu , sagte er grimmig zu sich. Du hast ihn verloren.
Während Stood seine Schulter auf einen Bruch abtastete, fiel ihm ein Geschäft auf, genau gegenüber des Gemüseladens, vor dem die alte Frau auf der Straße saß. Es war eine Buchhandlung, nicht sehr groß, aber ungewöhnlich aufgeräumt für hiesige Verhältnisse. Der Amerikaner warf einen Blick durch das nicht allzu schmutzige Schaufenster und entdeckte zweierlei: eine kleine Reihe mit englischsprachigen Büchern in einem der Regale … und eine hübsche, junge Verkäuferin hinten im Laden, die ihm ernst entgegensah.
Die Frauen in diesem Land luden einen nicht ein. Sie lächelten den Männern nicht zu, warfen sich nicht in Pose, neckten nicht. Sie lenkten den Blick aber auch nicht beschämt zur Seite. Sie sahen einen mit durchdringenden Augen an, dass man nicht wusste, ob sie einen taxierten oder straften. Stood hatte sich schon dabei ertappt, wie er diesen Blicken auswich. Obwohl er bei Frauen gewöhnlich nichts anbrennen ließ – mit den Bewohnerinnen des indischen Subkontinents hatte er so seine Probleme.
Die Frau im Laden unterschied sich von den meisten anderen durch ihre Kleidung. Farbenfroh war sie, grün und orange, nach westlicher Mode geschnitten, aber mit einem traditionellen Muster. Sie trug ein rotes Bindi auf der Stirn. Stood hatte gehört, das dieser farbige Punkt, der bei den Hindus Nordindiens ursprünglich den verheirateten Frauen vorbehalten gewesen war, mittlerweile eher als Modeaccessoire angesehen und von Frauen jenen Alters getragen wurde. Auf jeden Fall schien es sich nicht um eine Muslime zu handeln.
Er überlegte, dass er sich verdächtig verhielt, wenn er wegging, also betrat er den Laden. Ein hölzernes Glockenspiel klapperte melodisch beim Öffnen der Tür. Der schwere Duft von Räucherstäbchen füllte den schmalen Raum. Außer der Verkäuferin hielt sich niemand im Geschäft auf.
Die Frau rührte sich nicht, wartete wie ein Dekorationsstück, bis er direkt vor ihr stand. Auch dann blieb sie noch stumm und gestattete ihm einen ausgiebigen Blick auf ein weich geformtes Gesicht mit großen, ausdrucksvollen Lippen. Ihre schwarzen Augen blickten kühl, aber nicht abweisend. Das Bindi auf ihrer Stirn schien zu pulsieren, ein unerhörtes, sinnliches, obszönes Stück Farbe in einem reglosen dunklen Gesicht. Stood, der das Gefühl hatte, im Museum eine Statue zu betrachten, räusperte sich.
„Sie verstehen Englisch.“ Es war keine Frage, eine Feststellung. Die englischsprachigen Bücher erlaubten ihm die Annahme.
Sie nickte stumm.
„In der Nachbarschaft ist ein Unglück geschehen, ein Verbrechen“, begann er. Es war wohl besser, ganz offen zu ihr zu sein. Vielleicht hatte man gesehen, wie er das Haus des Briten betreten hatte. Er durfte nicht den Eindruck erwecken, als versuche er etwas zu verbergen. Der Täter war nicht er. „Ein Mann wurde getötet.“
„Getötet?“ Zum ersten Mal hörte er ihre Stimme, und das Wort schien auf ihrer Zunge zu zerschmelzen wie ein betörendes Gewürz. Ganz langsam und ganz leicht leckte ihre Zunge über ihre Oberlippe. Ihre Brust hob sich ein wenig. Ihr Busen konnte nicht sehr groß sein – er hatte einen Blick für so etwas –, aber ihr Kleid war so eng, dass die Formen ihrer Brüste sich deutlich darunter abzeichneten, wenn sie einatmete.
„Ja. Kennen Sie Dr. Fryers? Den britischen Gelehrten? Sie haben englischsprachige Bücher hier. Er war ganz bestimmt Kunde bei Ihnen.“
Sie sah ihn aus großen Augen an, doch in ihrer Miene war keine Überraschung und erst recht kein Erschrecken, nur Interesse. Interesse an der Situation. Oder an ihm. „Dr. Fryers kommt jeden Vormittag hier vorbei“, sagte sie ruhig.
„Er kommt nicht mehr vorbei“, entgegnete Stood und schluckte. „Er ist tot. Ermordet. Gleich da drüben in seiner
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