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Zimmer Nr. 10

Titel: Zimmer Nr. 10 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
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langsam vorwärts durch das Karomuster.
    Östensson brauchte nicht mehr tief zu graben, die Hand kam ans Licht. »Wir werden eine Weile brauchen«, sagte er.
    Winter nickte. Plötzlich fühlte er sich rastlos, hätte am liebsten selber gegraben.
    Er verließ das Wäldchen und zündete sich einen Corps an, sog den Rauch ein und stieß ihn wieder aus. Plötzlich hörte er Stimmen, helle, laute Stimmen, und einige Sekunden später kamen zwei Kinder auf der anderen Seite des Spielplatzes angestürmt. Sie schwangen sich jedes auf eine Schaukel und stießen sich heftig mit den Füßen ab.
    Es war ein schöner Anblick, die ersten Kinder, die er hier sah. Irgendwie machte ihn das froh. Gerne hätte er wie verrückt gelacht. Ihm stiegen Tränen in die Augen. Es könnte auch der Rauch von dem Zigarillo sein. Er hielt ihn von sich weg und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Für ein paar Sekunden wurde es trüb um ihn herum, als würde er anfangen zu weinen.
    Jetzt konnte er besser sehen.
    Die Kinder waren noch da. Der Vogel dort oben war noch da.
    Winter trat seinen Zigarillo aus und kehrte in das Wäldchen zurück.
    Inzwischen gab es mehr zu sehen.
    Einen Arm.
    Eine Schulter.
    »Eine Frau«, sagte Östensson leise, aber mit fester Stimme.
    »Hier kommt der Kopf.«
    Sie war nicht tief vergraben. Der Körper war sorgfältig mit Laub bedeckt worden. Der Herbst hatte ganze Arbeit geleistet. Doch Winter hätte nicht sagen können, wie lange sie dort gelegen hatte.
    Der Kopf wurde sichtbar. Das Haar, eine Wange, ein Teil des Kinns. Ein Profil. Es war ein schrecklicher Anblick.
    »Sie kann noch nicht lange hier liegen«, hörte Winter Östenssons ruhige, leise Stimme. Sie schien alle zu beruhigen, die am Grab standen oder knieten. Nur dass dies kein Grab war. Auch wenn sie es so nannten, doch das war Berufsjargon. Routine.
    Winter kniete sich hin, um das Gesicht von nahem zu betrachten. Das Haar bedeckte die Stirn und einen Teil der linken Wange. Im Licht der Scheinwerfer wirkten die Haare weiß, vielleicht waren sie blond gewesen, als sie noch lebte. Winter war kein Experte, nicht wie Östensson und die Kollegen von der Spurensicherung, aber er konnte ungefähr erkennen, wie lange jemand tot war. Darin hatte er Erfahrung. Die Frau war noch nicht zu Erde geworden, von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du wieder werden. Winter bückte sich tiefer, stand fast von Angesicht zu Angesicht mit ihr. Ihre Augen waren weder geschlossen noch offen. Der untere Teil des Gesichts lag im Schatten eines Baumes, eines Busches. Winter konnte trotzdem den Mund sehen, das Kinn, den Hals. Plötzlich fror ihn, als stürme der Wind vom Meer zwischen den Bäumen herein. Die Gedanken in seinem Kopf überstürzten sich. Endlich die Gewissheit.
    »Es ist Ellen Börge«, sagte er.
    Nun hatte er sie also gefunden. Woran hatte er sie erkannt? An ihrem Gesicht. Ellens Gesicht. Es war fast eine Generation vergangen, seit sie verschwunden war und Winter es zum ersten Mal auf einem Foto gesehen hatte. Das Bild war in seinem Kopf geblieben. Ellens Gesicht schien von der Zeit gleichsam eingefroren zu sein, von der Erde. Der Tod hatte die Züge geglättet, und das Gesicht wirkte jünger. Das war nicht ungewöhnlich. Der Tod konnte ein effektives Gesichtslifting bewirken. Winter hörte die Techniker darüber Witze machen. Aber er hatte im Augenblick keinen Sinn für Scherze. Er stand vor Ellen Börge. Sie hatte nicht lange in der Erde gelegen. Hier war das Licht anders, gewiss künstlich, aber blauer, kälter. Sie sah immer noch jung aus, in diesem Licht. Am rechten Fuß fehlte ihr der mittlere Zeh. Er wusste nicht, wann genau sie ihn verloren hatte. Ein Unfall, hatte Christer Börge gesagt. Erst neulich hatte Winter nachgelesen, dass er das ausgesagt hatte. Noch hatte er nicht mit Christer Börge gesprochen. Da hörte Winter, dass jemand hereinkam, und drehte den Kopf. Es war Halders. Er ging zur Bank, stellte sich neben Winter, betrachtete die Frau.
    »Ich hab mir noch mal das Video angesehen«, sagte er schließlich, ohne den Blick vom Gesicht der Frau zu nehmen. Er betrachtete nur ihr Gesicht.
    »Ja?«
    »Die Frau im Hauptbahnhof scheint etwas älter zu sein«, fuhr Halders fort, »aber eine Sonnenbrille kann nicht alles verbergen.« Er deutete vage auf das Gesicht vor ihnen. »Jedenfalls nicht, wenn wir einen Vergleich haben.«
    Winter nickte.
    »Du scheinst nicht überrascht zu sein.«
    Winter antwortete nicht. Er schloss die Augen und sah eine

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