Zimmer Nr. 10
über Paula Neys Privatleben«, sagte Aneta Djanali. »Am Arbeitsplatz scheint sie keine Freunde gehabt zu haben. Mir ist jedenfalls keiner begegnet.«
»Wenn man den ganzen Tag Kopfhörer aufhat, ist es ja auch nicht leicht, Freunde zu finden«, meinte Halders.
»Sie hatte andere Aufgaben, jedenfalls zuletzt.«
»Was genau?«
»Tja …«
»Danke. Genauer kann man sich kaum ausdrücken.«
»Es ging um irgendwelche Dienstleistungen, die Entwicklung von Dienstleistungen für die Kunden.«
»Na so was, und ich hab gedacht, alles dreht sich nur noch darum, den Kundendienst abzuwickeln«, sagte Halders und drehte sich zum Zimmer um, dem Wohnzimmer. Die gute Stube.
»Es ist etwas komplizierter«, sagte Aneta Djanali.
»Verstehe.«
»Jedenfalls hatte sie keine Kopfhörer auf.«
»Wir müssen uns wohl mal ausführlich mit diesen dienstleistungsentwickelnden Typen unterhalten«, sagte Halders.
»Sonst noch was Neues?«
»Winter ist dabei, alle Schließfächer am Bahnhof leeren zu lassen.«
»Sieh einer an.« Halders machte ein paar Schritte ins Zimmer. Er war also doch noch nicht ganz kaltgestellt, sie hörten noch auf ihn. Eine heftige Bewegung ging durch das Geäst vor dem Fenster. Die Baumkrone war tiefgrün.
»Es sind bestimmt vierhundert«, sagte Aneta Djanali.
»Dann brauchen sie Unterstützung.«
Paula Ney hatte einen schwarzen Samsonite besessen, und danach konnten sie suchen. Die ungefähren Maße hatten sie von Paulas Eltern bekommen. Es war kein großes Modell. Und eins der älteren.
Bengtsson öffnete die Fächer mit Hilfe von zwei Teilzeitkräften und sechs Polizisten.
»Was suchen Sie eigentlich?«, hatte er gefragt, als es losging.
»Nur einen Koffer«, hatte Winter geantwortet.
»Und was soll drin sein?«
»Kleidung, Fotos, vielleicht Fahrkarten. Das wollen wir überprüfen.«
»Hm.« Bengtsson sah aus, als würde er Winter kein Wort glauben.
Es waren viele Koffer.
»So viele Koffer«, sagte Halders, als er sich ihnen anschloss.
Sie versuchten, so schnell wie möglich zu arbeiten. Die Aufgabe erschien ihnen irgendwie nicht zu bewältigen.
Wonach suchst du eigentlich?, dachte Winter. Doch nicht nur nach einem Koffer.
Es war ihr Glück, dass die Ferien vorbei waren und weniger Leute verreisten. Ein Drittel der Fächer war leer. Einige enthielten Hausrat, ein Heim im Schließfachformat. In einem der größeren Fächer stand ein Gartenzwerg, der Winters Blick suchte, als er es öffnete.
Nachdem sie eine Stunde gearbeitet hatten, stieß Bengtsson, der auf der westlichen Seite Schließfächer öffnete, einen Schrei aus. Winter blickte auf und sah, wie er ein paar Schritte rückwärts taumelte.
Winter lief durch die Halle.
Bengtsson drehte sich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck zu ihm um. »Es riecht gar nicht«, sagte er. »Müsste es nicht riechen?«
Winter bückte sich. Das Schließfach war tief unten. Es dauerte einige Sekunden, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Da erkannte er eine Hand. Sie war in eine durchsichtige Plastiktüte gewickelt. Die Tüte war mit einem farblosen Gummiband verschlossen. Die Hand war kreideweiß.
Das Schließfach hatte die Nummer 110.
Es roch wirklich nicht.
Die Hand sah aus wie aus Gips.
Sie war aus Gips. Die Gipshand lag auf einem Tisch in der Unterwelt des Bahnhofs. Das kalte Licht ließ sie noch nackter wirken. Fast lebendig. Sie war erstarrt in einer Bewegung, einem Handschlag, oder in Ruhestellung, die Finger lagen eng beieinander.
»Was zum Teufel ist das?«, sagte Halders.
»Eine Hand aus Gips«, sagte Ringmar, mehr zu sich selbst.
»Ein Abguss«, sagte Winter. »Ein perfekter Abguss.«
»Von Paula Neys Hand?«, fragte Halders.
»Bisher haben wir noch keine Spuren gefunden«, sagte Ringmar.
Halders schaute auf die Gipshand hinunter. »Sie ist nicht groß.« Er blickte hoch. »Ihre Hand war genauso weiß.«
»Finden Sie öfter so was?« Halders drehte sich zu Bengtsson um, der einige Schritte vom Tisch entfernt stand.
»Nein, es ist das erste Mal.« Bengtsson sah immer noch aus, als stände er unter Schock. »Gipskatzen sind mir untergekommen und Frösche … aber so etwas noch nicht.«
»Ein perfekter Abguss«, wiederholte Ringmar. »Wenn es ein Abguss ist.«
»Die Hand hat sich nicht bewegt, als der Abdruck genommen wurde«, sagte Winter.
»Die Person war vermutlich tot«, sagte Halders.
»Auf dem Handrücken ist eine Art Narbe«, sagte Winter, »eine Linie.« Er beugte sich tiefer über die Hand. Es
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