Zimmer Nr. 10
Trotzdem hatte er nicht das Gefühl, bereichert worden zu sein, mehr wert als andere. All das Finstere, auf das er stieß, weckte seine Sehnsucht nach Sonne, nach viel Sonne. Er spürte, dass er immer einsamer wurde, je erfahrener er wurde. Wenn er sein Büro verließ, konnte er die Gedanken nicht einfach auf den Haken innen an der Tür hängen. Er konnte nicht alles vergessen und zurücklassen, wenn die Türen des Präsidiums hinter ihm zuschlugen. Er wusste, dass es Kollegen gab, die am Abend alles vergaßen, nicht viele, aber genug, um ihm die Arbeit zu erschweren, und es gab andere, die die Arbeit ernst nahmen. Am Anfang hatte er gedacht, er nehme alles zu ernst. Aber wie sonst sollte er es angehen? Und Einsamkeit war eine Voraussetzung dafür. Er hatte nie einen großen Freundeskreis gehabt. Einige Frauen, ein paar Männer. Einen Freund aus der Kindheit. Er hatte nie etwas gegen Einsamkeit gehabt. Fühlte sich nicht einsam. Wenn das Gegenteil darin bestand, abends mit Leuten zusammenzusitzen und zu quatschen, dann zog er seine eigene Gesellschaft vor. Er konnte mit sich selber reden, falls er abends eine Stimme hören wollte. Manchmal hatte er das getan. Oder jemanden anrufen. Wenn er es nicht wollte, brauchte er nicht mit sich allein zu sein. Er suchte seinen eigenen Weg, der eine Stille voraussetzte, die es nur in seiner eigenen Wohnung gab, nicht im Präsidium. Damals wohnte er in Guldheden, in einer Mietwohnung zwischen der Schule von Guldheden und dem Doktor Fries Torg. Es war ein Hochhaus, und er hatte von dort einen Blick weit über den Fluss, die Berge, die Seen im Osten, die Autobahnen rings um die Stadt; dreißig Jahre zu spät gebaut, kreisten sie gleichsam eine Art Unschuld ein, die es in dieser Stadt gab, in der er aufgewachsen und geblieben war. Er konnte auf seinem schwankenden Balkon im siebten Stock stehen und zuschauen, wie sich die breiten Straßen um die alten Ausfahrten schlängelten, für ihn waren es eher Ausfahrten als Zufahrten, dort unten wurde Meter um Meter die Autobahn gebaut, und innerhalb der Straßen würde ein Rest von Unschuld erhalten bleiben, wie er auch innerhalb des alten Wallgrabens bewahrt worden war. Hinter diesen Straßen: die Wildnis. Oder etwa umgekehrt? Alle Statistiken, wirklich alle zugänglichen Fakten zeigten, dass die Stadt innerhalb der fast zwanzig Jahre, die er nun schon hier Polizist war, ein gefährlicheres Pflaster geworden war. Gefährlicher, unberechenbarer, wie ein Axthieb auf den Schädel an einem milden Frühlingsabend. Zwanzig Jahre, ein halbes Arbeitsleben. Wenn ich noch mal zwanzig Jahre weitermache, gibt es nur noch Wildnis, der Dschungel übernimmt die Herrschaft, aber es gibt keine hübschen Palmen darin. So sahen seine Gedanken aus. Ohne dass er es beabsichtigte. Aber er wusste, woran es lag: an der Methode. Genauer: an der Einleitungsphase. Zu Beginn eines Falles war er nicht gut drauf. Die Welt um ihn war sinnlos, und er hatte sie so geschaffen. Wenn er einmal für immer fort sein würde, bliebe nur eine noch umfangreichere Verbrecherkartei, eine noch größere Festplatte übrig. Mit jedem Jahr wurde er kleiner, war leichter zu ersetzen …
Winter stand auf, ging auf den Balkon, zündete sich einen dünnen Zigarillo an und betrachtete die Kupferdächer auf der anderen Seite des Vasaplatsen. Der Obelisk unten im Park zeigte wie ein Finger in den Himmel. Die Geräusche der Straßenbahnen kamen gedämpft oben bei ihm an, die Lichter leuchteten klarer dort unten, Blitze wie in Zeitlupentempo, wenn sich Autos und Straßenbahnen langsam in Bewegung setzten oder bremsten.
Ein Moment auf dem Balkon. Das war einer der besseren Augenblicke, besonders jetzt und besonders an einem Abend, an der Grenze zwischen August und September, wenn die Luft leicht und das Licht blauer und durchsichtiger war denn je. Hier oben hielt sich der Duft des Hochsommers, mischte sich mit etwas Würzigem, Feuchtem. Der Herbst hatte ein feuchteres Aroma, der Sommer ein trockeneres. Sie hatten einen Sommer gehabt, der keins von beidem gewesen war. Und plötzlich war er vorbei.
Winter kehrte ins Zimmer zurück und schenkte sich aus einer Karaffe, die zwischen anderen Karaffen und Flaschen auf einem Ecktisch stand, einen Whisky ein. Er wusste, welche Marke in welcher der Karaffen war, aber Freunde, die ihn besuchten, wollten vielleicht ihr Wissen über Malzwhisky testen. Er hatte Freunde, neue Freunde. Das hatte sich verändert. Dazu hatten wohl Angela und Elsa beigetragen;
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