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Zimmer Nr. 10

Titel: Zimmer Nr. 10 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
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einen Abschiedsbrief zu schreiben.«
    »Wo sind denn dann die Briefe?«
    »Vielleicht nie abgeschickt worden«, sagte Ringmar.
    Winter dachte nach. Es nieselte wieder, aber so schwach, dass der Regen auf dem Boden kaum zu sehen war.
    »Meinst du, es gibt da draußen Familien, die Abschiedsbriefe von ihren Lieben besitzen, ohne je davon erzählt zu haben?«
    »Ich weiß nicht, ob ich so weit gedacht habe.«
    »Stellen wir uns vor, jemand hat die Familie verlassen, ist vielleicht abgehauen, und dann kommt so ein Brief, der von Liebe und Vergebung handelt.«
    »Aber die Person kehrt nie zurück?«
    »Die Familie muss doch denken, dass die Person aus freien Stücken verschwunden ist«, sagte Winter. »Er oder sie lebt, möchte aber in Frieden gelassen werden.«
    »Das ist gar nicht so ungewöhnlich«, sagte Ringmar. »Ein Abschiedsbrief ist auch nichts Ungewöhnliches.«
    »Gibt’s welche?«, fragte Winter. »Die Paulas Gruß gleichen?«
    »Ich wage kaum, darüber nachzudenken.«
    »Die Frage ist, wie wir das rauskriegen sollen.«
    »Nicht mit Hilfe der Presse. Das wäre etwas zu viel des Guten. Es würde die Leute allzu sehr erschrecken. Gibt es da Abstufungen? Kann man mehr oder weniger erschrocken sein?«
    Winter antwortete nicht. Sie hatten fast das Fundament der Brücke erreicht. Was aus der Ferne klein gewirkt hatte, war jetzt sehr groß. Oben dröhnte der Verkehr.
    »Es ist wie mit der Hand«, sagte Ringmar. »So etwas kann man der Öffentlichkeit einfach nicht zumuten.«
    Die weiße Hand. Winter hatte sie sich am Tag zuvor erneut angeschaut. Es war das seltsamste Ding, das er je in einer Ermittlung gesehen hatte.
    Die Hand war weiß wie frisch gefallener Schnee. Sie war sauber, schien unberührt. Ihm war das Wort unschuldig durch den Kopf geschossen. Es war kein gutes Wort.
    »Heute Nacht hab ich davon geträumt«, sagte Ringmar. »Sie hat mir zugewinkt.«
    Jetzt standen sie unter der Brücke. Der Lärm über ihnen klang wie Ketten, die gegen Eisen schlagen. Der dünne Regen hing wie Nebel über dem Fluss. Winter sah Silhouetten von Möwen im Gleitflug zwischen den Ufern pendeln. Wieder heulte eine Schiffssirene. Sie klang wie der Gesang eines Wales.
    Paula hatte sich zwei Tage vor ihrer Ermordung von einem Automaten im Hauptbahnhof fotografieren lassen. Das ging am schnellsten, war am einfachsten und am billigsten.
    Winter saß da mit den vier Automatenfotos vor sich. Paulas letztes Gesicht. Er dachte an ihre Mutter und dann wieder an sie.
    Was hatte sie mit diesen Fotos gewollt? Verreisen? Es war immer gut, Fotos auf Reisen dabeizuhaben. Falls man verloren ging.
    Er studierte ihr Gesicht. Dasselbe Gesicht in vier Versionen. Vielleicht senkte sie auf einem der Bilder die Augenlider. Sie lächelte nicht, schaute ihn nur direkt an. Sie sah nicht aus, als wäre sie irgendwohin unterwegs.
    Aneta Djanali ließ das Videoband vor- und zurücklaufen. Das grüne Licht auf den Bildern tat ihr in den Augen weh.
    Sie verfolgte die Bewegungen der Frau von dem Moment an, wo sie auftauchte, bis sie wieder verschwand.
    Sie verfolgte die Bewegungen des Mannes.
    Es war nicht kalt im Raum, aber Aneta Djanali fror. Ihre Finger, die auf die Knöpfe der Fernbedienung drückten, waren kalt wie Eis.
    Das Gesicht der Frau war wie eine Maske hinter der Sonnenbrille. Unter der Perücke. Niemals im Leben war das ihr eigenes Haar.
    Die falsche Blondine stellte den Koffer zwischen 18.29 und 18.31 Uhr ab. Sie war nicht allein im Raum, aber er war auch nicht gerade überfüllt.
    Aneta Djanali betrachtete forschend die anderen Personen. Es waren fremde Gesichter, direkt von vorn, im Profil. Fremde Rücken.
    Sie sah den Schatten eines Mantels.
    Ein Paar Schuhe.
    Am Bildrand.
    Der Mantel, ein Detail, aber sichtbar.
    Die Schuhe.
    In der anderen Schließfachreihe. Dort stand jemand und rührte sich nicht. An der Stelle war die Halle breiter, so dass fast ein weiterer Raum entstand.
    Aneta Djanali nahm den Film mit der Frau heraus und steckte den Film mit dem Mann hinein. Knapp sechs Stunden später war er gekommen und hatte den Koffer herausgeholt. Die Hand hineingelegt. Aneta Djanali studierte den Mantel, die Schuhe. Es könnte derselbe Mantel sein. Die Schuhe waren schwarz, breit. Groß. Größe 44 oder 45. Sie legte den anderen Film ein. Die Schuhe. Schwarz, breit. Öberg hatte auf Größe 44 getippt. Sie standen still. Die Kamera zeigte nicht mehr als die Beine des Mannes. Plötzlich bewegte sich der Mantel, als hätte ihn ein Windzug erfasst,

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