Zimmer Nr. 10
Verhör, aber natürlich war es ein Verhör.
»Mehr oder weniger«, sagte Ney.
»Ich bin aufrichtig zu Ihnen«, sagte Winter. »Wenn Menschen verschwinden, möchten wir wissen, was die Angehörigen zum Zeitpunkt ihres Verschwindens getan haben. Wo sie sich aufgehalten haben.«
»Fällt Ihnen nichts Besseres ein?«
»Diese Methode ist häufig die beste«, sagte Winter.
»Das glaube ich nicht«, sagte Ney. »Keinesfalls.«
Winter sagte nichts. Auch Ringmar schwieg. Es raschelte am Fenster, als wollte ein Teil des Herbstlaubs hereinkommen oder ein ganzer Zweig.
»Sie wissen doch, wo ich war«, sagte Ney. »Ich war zu Hause.«
»Hat Sie jemand gesehen?«, fragte Ringmar.
»Ich war allein. Herrgott. Sie wissen doch, dass ich jetzt allein bin. Was soll das? Was erlauben Sie sich eigentlich?«
»Ich meine, ob Sie einem Nachbarn begegnet sind«, sagte Ringmar.
»Oder ob Sie noch jemand anders angerufen haben«, ergänzte Winter.
»Wohin sollte ich gehen? Wen sollte ich anrufen? Das können Sie doch sowieso kontrollieren, falls ich jemand angerufen hätte.«
»Ja.«
»Ja, ja, ich verstehe«, sagte Ney.
Er wirkte plötzlich noch müder, als wäre alles vorbei. Als sei mit Einbruch der Dunkelheit jegliche Hoffnung geschwunden. Oder als wollte er noch etwas sagen. Winter glaubte, dass er noch etwas sagen wollte. Deswegen saßen sie hier. Winters Gefühl der Intuition war stark. Er pflegte sich darauf zu verlassen. Ney wusste etwas, wollte es aber nicht preisgeben. Was auch geschehen war und geschah, er wollte es nicht sagen. Das Geheimnis war tief wie ein Abgrund. Was konnte es sein? Was zum Teufel konnte es sein? Würde es ihm gelingen, es Ney zu entlocken?
»Was halten Sie vom Verschwinden Ihrer Frau?«
»Was … wie meinen Sie das?«
»Warum ist sie verschwunden?«
»Sie ist natürlich verwirrt. Wie schon gesagt, sie hätte niemals entlassen werden dürfen.«
Winter nickte. Ney hatte auch gesagt, sie hätte niemals dort eingeliefert werden dürfen.
»Warum höre ich nichts, Winter? Sie glauben doch wohl nicht allen Ernstes, dass Elisabeths Verschwinden mit dem … mit dem Mord an Paula zu tun hat? Dass jemand … jemand …«
Er beendete den Satz nicht. »Das können Sie doch wohl nicht glauben?«
Winter musste nicht mehr antworten.
»Dass ICH es war?« Ney sprang auf. »Sagen Sie es geradeheraus, wenn Sie glauben, dass ich es war!«
»Setzen Sie sich«, sagte Winter.
»SAGEN SIE ES!«, schrie Ney.
Ringmar hatte sich erhoben. Winter machte eine Armbewegung, aber Ringmar blieb stehen. Ney rührte sich nicht. Er sah wie vernichtet aus, als wäre er drauf und dran, etwas zu erkennen, das er nicht erkennen wollte. Ob wir das Rätsel jetzt lösen?, dachte Winter. Bekommen wir jetzt eine Antwort?
Ney ließ sich wieder auf den Stuhl fallen.
Ringmar ging zum Fenster und blickte hinaus. Dort ist nichts zu erkennen, dachte Winter. Draußen ist es dunkel.
Ringmar drehte sich um. »Möchten Sie uns noch etwas sagen, Herr Ney?«
Ney schaute auf. Er schien Schwierigkeiten zu haben, Ringmars Gestalt vor dem Fenster im Halbdunkel des Zimmers auszumachen. Es war ein Zimmer, das immer im Halbdunkel lag, Winters Zimmer, genau wie das Wohnzimmer der Familie Ney.
»Sprechen Sie es aus«, sagte Ringmar.
Ney sah Winter Hilfe suchend an. Als wäre Winter der nette Polizist und Ringmar der böse. Doch Winter konnte jetzt nicht nett sein.
»Sagen Sie es, Herr Ney.« Winter nickte schwach.
»Sie sind ja verrückt«, sagte Ney, er sprach sehr langsam, fast schleppend, als wiederholte er etwas, das er gerade gedacht hatte, aber selbst nicht glauben konnte. So etwas erlebte Winter oft als Verhörleiter. Der Gedanke war das eine, doch die Worte, die ihn transportieren sollten, waren etwas ganz anderes, verbargen sich am anderen Ende der Gehirnwindungen, des Zimmers, der Stadt, der Welt.
Winter wartete. Ney konnte einfach aufstehen und gehen, dazu hatte er das Recht, sie beabsichtigten nicht, ihn sechs Stunden hier zu behalten, auch nicht doppelt so lange. Aber auch Ney wartete, vielleicht darauf, dass ihm einfiel, was er tun sollte.
Und dann erhob er sich. »Ich will jetzt nach Hause.«
»Scheiße«, sagte Ringmar, »wir hatten ihn fast so weit.«
Sie saßen immer noch im Halbdunkel des Zimmers, hielten wieder Schummerstunde. Alles wurde gedämpfter, wenn das Licht verschwand. Vielleicht kann man dann am besten denken. Winter beobachtete die langsamen Bewegungen der Bäume. Ich brauche frische Luft. Aber noch will ich
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