Zirkus Mortale: Kriminalroman (German Edition)
noch Eis und Popcorn gegessen, und nun hing sein Leben
an einem seidenen Faden. Dieser Mann, den er nie zuvor gesehen hatte und der sein
Gesicht versteckte, würde entscheiden, ob es aus und vorbei sein würde.
Florian
wusste nicht weiter. Stumm starrte er auf das Strumpfgesicht. Ihm zitterten die
Knie. Sie fixierten sich einige Sekunden, die sich zu kleinen Ewigkeiten zogen,
doch dann kam der erlösende Moment. Der Mann drehte sich um und rannte davon.
Florian
taumelte zum Wohnwagen und lehnte seinen Rücken dagegen. Die Regentropfen des Tages
durchnässten sein Hemd, doch er spürte die Feuchtigkeit kaum. Seine Brust hob und
senkte sich, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sich wieder unter Kontrolle
hatte. Plötzlich vernahm er ein leichtes Knarren. Er wandte den Kopf und sah, dass
die Tür des Wohnwagens einen Spalt breit geöffnet wurde. Aufmerksam betrachteten
ihn dunkle Augen. »Muchas gracias«, hörte er eine Frauenstimme flüstern. »Muchas
gracias, senor. Sie haben mein Leben gerettet.«
Sonntag, 17. Juli
Das Tief hatte sich über Nacht verzogen,
und der Himmel war so blau wie es einem Sonntag gebührt. Die Welt wirkte wie reingewaschen,
klare Luft wehte durch das geöffnete Fenster und bescherte Florian frische Energie.
Jana hatte einen Strauß Wiesenblumen, die sie in dem kleinen Blumenlädchen am Chlodwigplatz
erstanden hatte, auf den Tisch gestellt, und die noch warmen Croissants verströmten
einen hinreißenden Duft. Aus den Schalen mit Kaffee dampfte es heiß, und hätte an
diesem Vormittag nicht Dele Sanchi, die von der Kripo gesuchte Guatemaltekin, vor
ihm gesessen, wäre er vermutlich auf die Idee gekommen, Jana darum zu bitten, ihm
etwas vorzuspielen. Sie war Meisterin auf der klassischen Gitarre, hatte in früheren
Zeiten Musik studiert, und sie liebte insbesondere Paganini und Corelli, diese begnadeten
italienischen Musiker, deren Kompositionen auch ihn immer wieder begeisterten. Er
fand, es gab an einem Sonntagmorgen nichts Schöneres, als ihr zuzuhören. Florian
beobachtete Dele Sanchi dabei, wie sie an ihrem Kaffee nippte. An ihrer Seite saß
Gino, und als ob er sie beschützen müsse, hatte er seinen Arm um ihre Stuhllehne
gelegt.
Am gestrigen
Abend, nachdem der Mann vor dem Wohnwagen die Flucht ergriffen hatte, hatte sie
die Tür geöffnet und ihn hineingezogen und sie hatte sich immer wieder bei ihm dafür
bedankt, dass er ihr Leben gerettet hatte. Dabei hatte sie gezittert wie Espenlaub.
Florian war schnell klar geworden, wen er vor sich hatte. Die von der Kripo gesuchte
Guatemaltekin.
Als sein
Handy klingelte, hatte er geflucht, aber ein kurzer Blick auf das Display hatte
ihm gezeigt, dass es Sylvia Gerlach war, und so hatte er abgenommen. Er hatte nur
kurz mit ihr gesprochen, aber es hatte gereicht, um zu erfahren, dass die Kripo
am nächsten Morgen in aller Frühe den Zirkus durchsuchen würde. Während er mit ihr
telefonierte, hatte er Dele genau beobachtet. Er hatte jede ihrer Bewegungen registriert,
darauf gefasst, dass sie jeden Moment die Flucht ergreifen würde, und wie unbeabsichtigt
hatte er sich vor die Tür gestellt, doch seine Sorge war unbegründet gewesen. Sie
war auf die Eckbank gesunken und dort war sie mit hängenden Schultern sitzen geblieben.
Als er sie
da hocken sah, blass und zerknittert wie eine Papiertüte ohne Inhalt, hatte er etwas
getan, was ihn selbst verwunderte. Er hatte der Kommissarin verschwiegen, wo er
war und was er gerade erlebt hatte und er hatte mit keinem Wort erwähnt, in wessen
Gesellschaft er sich befand. Kurz hatte sich sein Gewissen geregt, denn er hatte
an ihre Abmachung gedacht, doch dann hatte er sich gesagt, dass sie nicht besprochen
hatten, wann er ihr seine Neuigkeiten, sofern er überhaupt damit aufwarten
konnte, mitteilen würde.
Er hatte
das Handy wieder in die Hosentasche gesteckt und sich mit seinen langen Beinen zu
Dele Sanchi auf die Eckbank gezwängt. Er war sich viel zu groß und ungelenk für
diesen kleinen Wohnwagen vorgekommen und hatte gedacht, dass so ein Gefährt nur
etwas für Zwerge sei.
»Er wollte
mich umbringen«, hatte sie gehaucht und hinzugefügt: » Ich sollte sterben,
nicht Pippa.«
Florian
hatte sie angestarrt: »Sind Sie sicher?«
Dele hatte
stumm genickt.
»Aber warum?«
Sie hatte
mit den Schultern gezuckt und anstatt seine Frage zu beantworten hatte sie gesagt:
»Ich habe mit ihrem Tod nichts zu tun, ich schwöre es.«
Plötzlich
hatten sich ihre Augen geweitet, denn die Erinnerung traf
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