Zirkus Mortale: Kriminalroman (German Edition)
Stange, die ihr jemand hingehalten habe, um sich festzuklammern, und wie
angewurzelt, mit starren Augen, beobachtete sie die Tür, die jeden Moment aufspringen
würde.
Sonnabend, 16. Juli, abends
Marko Rössner und Sylvia Gerlach
standen nebeneinander am Fenster und sahen hinaus auf die Straße, die um diese Zeit
nicht allzu belebt war. Unter ihnen ertönte ein kurzes Hupen, dann war wieder alles
ruhig, der Verkehr floss gemächlich dahin. Es war der typische Wochenendverkehr,
der die meisten Menschen zu einem freundlichen Fahrstil veranlasste und sogar die
Autos, in denen sie saßen, sympathisch wirken ließ. Wie locker auf eine Schnur gezogene,
blank geputzte Perlen zogen die PKWs vorbei, und Sylvia Gerlach fragte sich, wie
es wäre, wenn sie jetzt auch ihre vier Räder unter sich hätte und nach Hause fahren
könnte. Ein schmerzliches Lächeln umspielte ihren Mund. Ihre Freunde saßen jetzt
irgendwo draußen und amüsierten sich, während sie immer noch im Dienst war, doch
sie hatte es ja so gewollt. Selbst wenn die Arbeit bei der Kripo ihr viel abverlangte,
so war sie trotz gelegentlicher Zweifel sicher, den richtigen Job gewählt zu haben.
Allerdings hatte sie den Verdacht, dass ihr Chef nicht dieser Meinung war.
Sie war
hundemüde und unterdrückte ein Gähnen. Im Laufe des Tages hatte sie sich zweimal
beim Sekundenschlaf ertappt. Das erste Mal war sie vor dem PC eingeschlafen und
davon aufgewacht, dass sie mit dem Kopf gegen den Bildschirm gerumst war, das zweite
Mal war sie in der morgendlichen Fallbesprechung, an der das ganze Team um Rössner
teilnahm, eingenickt. Die Heiterkeit der Kollegen, die sich über ihr Schnarchen
amüsierten, hatte sie geweckt, und den ganzen Tag über hatte sie sich einiges an
Frotzeleien anhören müssen. Mit einem raschen Seitenblick auf Kriminalhauptkommissar
Rössner überlegte sie nun, wie er es aushielt, tagelang mit so wenig Schlaf auszukommen.
Länger als vier Stunden hatte keiner von ihnen in den letzten Nächten im Bett verbracht.
Trotz all
der Arbeit, der Spuren, die sie verfolgt hatten, waren sie im Mordfall Sabrina Delson
nicht wesentlich weiter gekommen. Seufzend kehrte sie dem Fenster den Rücken und
betrachtete die Pinnwand, an der Zettel und Fotos klebten. Das Foto der Leiche von
Sabrina Delson befand sich links oben, rechts oben hing das Foto von Pippa Gonzales.
Zwischen die Aufnahmen hatte Kriminalhauptkommissar Marko Rössner einen Pfeil gesetzt,
der in beide Richtungen zeigte, und darüber drei Fragezeichen in dickem Rot gemalt.
Sie fragten sich, ob es zwischen den zwei Frauen eine Verbindung gab. Es existierten
Hinweise, die diesen Rückschluss zuließen, aber es gab auch Indizien, die dagegen
sprachen. Es war wie eine Irrfahrt im Nebel. In weiter Ferne tauchte eine Spur auf,
so hell und vielversprechend wie ein Leuchten, doch kaum meinten sie, ein Stück
weiter gekommen zu sein, schien der Weg plötzlich irrelevant und verlief im Nichts.
»Wo ist die Schnittstelle, wenn es eine gibt?«, seufzte sie leise und stöhnte ärgerlich:
»Ich zermartere mir das Hirn und komme nicht drauf.«
Marko Rössner
betrachtete die junge Kollegin, und sein Blick war voll unverhohlener Skepsis. Er
fragte sich schon seit längerem, über wie viel Grips sie verfügte. Während der gesamten
Zeit der Ermittlungen hatte sie nicht mit einem einzigen erhellenden Gedanken zur
Aufklärung des Falls beigetragen, und er rechnete auch jetzt nicht ernsthaft damit,
dass sie ihn irgendwie weiterbrachte. Dennoch sagte er sich, dass er die Hoffnung
nicht aufgeben dürfe, ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn. Unwillkürlich
musste er grinsen. Wenn nicht, würde er dafür sorgen, dass sie bald in eine andere
Abteilung versetzt würde. Zur Sitte zum Beispiel.
»Ist was?«
Bereit, mitzulachen, sah Sylvia Gerlach ihn an.
Rössner
schüttelte den Kopf, löste sich vom Fensterbrett und ging hinüber zur Pinnwand.
Ein letztes Mal würde er heute noch rekapitulieren, was sie bislang an Erkenntnissen
gewonnen hatten, und dann würde auch er nach Hause fahren. Er überlegte, wann er
endlich einmal wieder Zeit finden würde, in den Boxring zu steigen. Heute sicher
nicht.
Vielleicht
würden sie in den Fakten doch noch etwas entdecken, was sie bislang übersehen hatten.
Sam Delson war wieder auf freiem Fuß, und sie mussten mehr oder weniger von vorn
anfangen.
Er strich
sich über den beinahe kahlen Kopf. Es gab diese Momente, in denen alles ausweglos
schien, die Hirne vom vielen Denken
Weitere Kostenlose Bücher