Zirkus zur dreizehnten Stunde
verließen sie die Kräfte. Sie spürte, wie sie rollte und schlitterte. Glasscherben fraßen sich in ihre Haut. Der Schmerz blieb aus, eine Woge der Dunkelheit überrollte sie.
11. XII – Der Gehängte
Der Auftritt endete mit gewaltigem Applaus. Die Menge tobte. Ihre Auftritte schienen den Leuten wirklich Spaß bereitet zu haben. Sie verließ das Zelt und gab sich einem zusätzlichen Applaus nicht mehr Preis.
Damian verzichtete heute ebenfalls darauf wie auf die verträumten Blicke der Frauen. Sein Fokus hatte sich geändert. Warum sollte er sich auch mit einfachen Menschen abgeben, wenn er eine Füchsin erobern konnte?
Er ging ihr nach, wollte sie allein treffen, wenn auch nur für einen Augenblick. Schnell wie der Wind flitzte sie davon, verschwand zwischen den Zelten und lief noch ein gutes Stück weiter. Erst am Flussufer blieb sie stehen und setzte sich ins hohe Gras.
Die Abenddämmerung setzte bereits ein. Im letzten Zwielicht wirkte sie unglaublich zerbrechlich. Oder lag das nur an dem Nebel?
Nebel! Er legte sich um sie, nahm Formen an. Etwas bildete sich heraus.
„Es … tut mir leid“, hörte er ihr Flüstern. Näher! Er musste näher heran. Wer war das, der sich hier manifestierte?
Der Blick der Füchsin wurde traurig. Sie streckte die Hände nach der Gestalt aus. „Ich wollte niemals, dass du stirbst.“ ihre Stimme zitterte. Allmählich war ein Mann in der Nebelform zu erkennen. „Ich weiß, dass ich kein Recht habe, jemals glücklich zu sein. Nicht nach dem, was ich dir angetan habe.“ Sie schlug die Augen nieder. Einen Moment zuckten ihre Umrisse. Weinte sie? Etwas in Damian regte sich. Ihre Verzweiflung, ihre Hoffnungslosigkeit. Sie sollte, sie musste einfach ihm gehören!
„Wenn du mir doch nur verzeihen könntest“, der Wind trug ihre Worte an sein Ohr. Sie war als Füchsin bereits erwacht, hatte ihr erstes Opfer schon gefordert. Damian wurde leichtsinnig. Er richtete sich auf und …
Ein Knacken ertönte. Er fluchte leise.
„Wer ist da?“, Lillian hatte sich umgedreht und starrte zu ihm. Nun hatte es ohnehin keinen Sinn mehr sich zu verstecken.
„Nur jemand, der deinen Schmerz verstehen kann“, meinte er und ging auf sie zu.
„So?“, sie wirkte nicht überzeugt.
„Lass dich nicht von den Geschichten beeinflussen, die man über mich im Zirkus erzählt.“ Zum ersten Mal störte ihn sein negativer Ruf.
„Welche Geschichten meinst du?“ Ihre Augen wurden schmal.
„Die gleichen, die man sich über eine Füchsin erzählen könnte.“ Seine Worte trafen.
Lillian zuckte zusammen. Vielleicht war der Ruf doch ganz nützlich.
„Was weißt du schon?“ Sie drehte sich um und starrte in das Wasser vor sich.
„Ich weiß eine Menge.“ Er setzte sich neben sie, schwieg lange genug, um sie unsicher werden zu lassen, kurz genug, um ihr nicht die Chance zu geben, einfach zu verschwinden. „Ich sehe sie jede Nacht.“
„Wen?“ Nun war sie doch neugierig.
Damian sah auf, lächelte gequält und mit einer Handbewegung zerteilte er die Schleier, die die Welten trennten. Ein Blick in eine düstere Welt. Die Bäume waren nur noch Skelette, die Sonne erstrahlte in purpurnem Licht. Flüsse aus Blut, Berge aus Dunkelheit und zwischen all dem die blassen Seelen der Toten. Damian sah hinein und deutete auf einen der nahen Bäume. Daran oder besser darin, war eine Frau. Sie hing dort wie gekreuzigt. Dünne Seile schnürten sich in ihre Haut und spannten sich mit jedem Zentimeter, den der Baum wuchs.
„Ich habe sie bei der Show kennengelernt“, meinte er und versuchte, Lillian aus den Augenwinkeln zu beobachten. Ihrem Blick nach zu urteilen, erkannte sie das Mädchen, das er beim ersten Auftritt in London in die Manege geholt hatte. „Es war nur eine Nacht und am nächsten Morgen …“, er brach dramatische ab.
Lillian schlang die Arme um die eigene Taille. Sie wollte den Blick abwenden, doch etwas ließ es scheinbar nicht zu. Der Magier wandte noch einmal den Kopf.
Jemand war erschienen. Tote Augen, vollkommen ohne Gefühle. Ein stummer Blick, der eine gewaltige Last in sich trug.
Lillian begann zu zittern.
Mit einer schnellen Bewegung ließ Damian das Tor verschwinden. Sie schluchzte auf und drehte sich weg.
„Wenigstens hast du die Chance, dich bei ihnen zu entschuldigen“, meinte sie leise.
„Ach wirklich?“ Sein Blick suchte den ihren.
„Du kannst diese Welt betreten.“ Lillian fuhr zu ihm herum. „Kannst deine Opfer noch einmal sehen, sie um Vergebung bitten
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