Zirkus zur dreizehnten Stunde
erobert wurde, während sich die Sonne weiter über den Rand nach unten schob. „Jeden Tag etwas Neues sehen, immer eine neue Stadt, ein anderes Land, ständig auf dem Weg.“ Ein belustigtes Schnauben. „Und du hast überall, wohin du auch kommst, sofort sämtliche Aufmerksamkeit. Ich war in einer der Vorstellungen. Unglaublich wie sehr diese Schausteller uns Stadtmenschen faszinieren. Karen war auch hin und weg. Dieser Magier hatte es ihr echt angetan. Ich musste sie regelrecht nach Hause zerren.“ Ein Lachen der beiden Männer erklang.
„Ob sie dieses Leben in der Stadt abschreckt? Vielleicht kann sich eine Zigeunerin nicht so einfach von ihrem umherziehenden Leben verabschieden“, überlegte Aaron. „Vielleicht lässt sie sich sogar verleugnen.“
„Du denkst zu viel.“ Will klopfte ihm freundlich auf die Schulter.
„Ja vielleicht.“ Aaron schüttelte den Kopf. „Ich habe eben noch nie erlebt, dass mir jemand nicht mehr aus dem Kopf geht.“
Faith schluckte. Er war so nah, er machte sich Sorgen um sie. Einen Moment lehnte sie an dem Baum. Was sollte sie tun? Ihr Herz klopfte. Ein dicker Kloß saß in ihrem Hals. Neben sich sah sie den Faden. Er wiegte sanft in der Luft und führte direkt zu Aaron.
Sollte sie wirklich …?
Kaum war der Gedanke da, reagierte ihr Körper von selbst.
„Aaron“, langsam trat sie hinter dem Baum hervor und starrte in seine Richtung. Er stockte, drehte sich um und riss die Augen auf.
„Faith.“
Ein Moment wie ein Donnerschlag. Beide standen sich gegenüber, vollkommen verblüfft und paralysiert.
„Du lebst.“ Dann brach der Bann und er stürmte auf sie zu. Ehe sich Faith versah, landete sie in seinen Armen. Das Gefühl, den anderen zu spüren. Endlich jemanden für sich zu haben. Faith verging regelrecht darin. Noch nie hatte sie so empfunden. Doch zugleich kam etwas anderes in ihr hoch.
„Aaron“, sie befreite sich und schob ihn ein wenig zurück, „ich muss dir etwas sagen.“
„Dann klärt das mal.“ Will hob zum Abschied die Hand und verließ die beiden. Aaron schien es gar nicht zu bemerken.
„Es tut mir leid“, sie wandte das Gesicht ab. „Ich bin schuld, dass die Kirche …“
„Nein“, er unterbrach sie. „Warum solltest du so etwas tun?“ Scheinbar verstand er sie falsch. Sie schüttelte den Kopf.
„Ich habe jemanden aus dem Zirkus dort getroffen“, erklärte sie. „Aaron, der Zirkus ist … wir sind anders.“
„Wir?“ Er schnaubte. „Nein, du nicht. Etwas ist an dir, was dich von ihnen unterscheidet.“
Sie senkte den Blick. Wie sollte sie ihm das klar machen? Wie sollte sie überhaupt eine Lösung finden? Und vor allem, welche Lösung wollte sie finden?
„Dieses Wesen, das jemand gesehen hat“, sie ging nicht auf seine Worte ein, „er gehört zu meinen besten Freunden.“
„Aber es wurde als Bestie beschrieben.“ Er stockte. „Wie kannst du mit so etwas befreundet sein?“
„Er ist keine Bestie.“ Ihre Stimme klang tonlos. Jegliche Kraft entwich langsam aus ihr. „Sein Name ist Jack. Er ist vielleicht anders, aber er ist … wie ein Bruder für mich.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich wünschte, du könntest das verstehen.“
„Faith“, sein Blick wurde ernst. „Ich war im Zirkus. Oder besser im Lager. Zumindest habe ich ein paar von euch gesehen. Ohne ihre Kostüme, ohne ihre Schminke.“ Er schüttelte den Kopf. „Dieser Zirkus ist voll von verdammten Seelen, die sonst in der Gosse enden und jämmerlich sterben würden. Sie sind nicht wie du. Du gehörst hierher, in die Stadt, zu mir. Du bist anders.“
„Aber er ist mein Freund“, sagte sie nur sanft. „Ich gehöre zu ihnen.“ Etwas in Faith regte sich. Die Stadt, der Zirkus, die Stadt, der Zirkus … Aaron … Jack …
Liebe … Freundschaft …
Eine wilde Achterbahn. Sie fühlte sich, als würden unheimliche Kräfte an ihren Gliedmaßen reißen und sie in Stücke zerren.
„Nein.“ widersprach er heftig.
Sie sah erschrocken auf.
„Du bist nicht so ein Freak wie die Leute dort. Ich habe dich kennengelernt. Du hast mit ihnen nichts gemeinsam.“ Er packte sie fest an den Oberarmen.
Faith starrte ihn an. Einige Augenblick konnte sie nichts anderes, als ihn ansehen. „Freaks“, wiederholte sie leise. „Das ist es …, was jene im Zirkus für dich sind?“
„Deswegen sind sie fahrendes Volk.“ Er schüttelte sie ein wenig.
Das Wort hallte weiter in ihren Gedanken wieder. Wo war sein Verständnis? Wo war seine Offenheit
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