Zirkus zur dreizehnten Stunde
etwas anderes, ob man sich selbst etwas nahm, oder ob man regelrecht hingerichtet wurde. Die Wunden auf ihrem Rücken waren tief. Eigentlich hätte sie daran zugrunde gehen müssen. Ein Engel, der seiner Flügel beraubt war. Trotzdem hatten sie sie nicht verjagt. Sie wollten, dass sie blieb. Sie erwarteten von ihr eine Restrukturierung ihrer persönlichen Eigenschaften. Anders gesagt, sie sollte wieder so gefühlskalt werden wie die anderen Engel.
Antigone war geflohen. So weit weg wie sie nur konnte. Lieber wollte sie auf der Erde zerschellen, als weiter die sturen Regeln der Engel umzusetzen. Doch das Überleben war ihr Schicksal. Dann das Kind. Sie hatte es gefunden und gerettet, nahm Jack an sich. Doch sie hätte verloren. Sie hätte versagt wenn –
Antigone öffnete die Augen und sah in dasselbe Gesicht wie damals. Das Gesicht von Cael, der Amaliel erschlagen und ihr und Jack das Leben gerettet hatte. Noch nie hatte sie die Kontrolle abgegeben. Noch nie hatte sie andere ihre Handlungen übernehmen lassen. Sie war immer diejenige, die um Eigenbestimmung gekämpft hatte. Sie hatte stets alle zurückgewiesen, die sie in irgendwelche Richtungen zwingen wollten.
Seit sie ihre Heimat verlassen hatte …
Ihre Heimat …
Und jetzt, stand sie hier. Wie damals, als sie geflohen war, und hielt die Hand des grausamsten Wesens, das auf dieser Welt lebte.
„Warum …“, war alles was sie flüstern konnte.
Cael zog sie mit einem Mal zu sich. Seine Arme legten sich um sie und er presste sie an sich. Verwirrt riss Antigone die Augen auf. Was tat er da? Sie fühlte sich geschützt. Es war seltsam. Da stand einer der größten Feinde ihrer Rasse, ein Wesen so grausam, dass es jahrhundertelang gewütet hatte. Und genau dieses Wesen schützte nun sie?
Langsam ließ er sie los, sah ihr ins Gesicht. Diese tiefen Augen, die ihr bis in die Seele zu blicken schienen.
„Cael?“ flüsterte sie. Es war ihr nicht mehr möglich den Blick abzuwenden, sich von ihm zu befreien. Sein Gesicht näherte sich dem ihren. Vorsichtig legten sich seine Finger um ihr Kinn, hielten es, so dass sie sich nicht abwenden konnte.
Ein Kuss …
Sie spürte seine Lippen, seine Zunge, die nach der ihren griff.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor er sich wieder löste. Was war das? Ein Schatten hatte sich in seinen Augen gebrochen. Etwas glitzerte darin. Wie ein sanftes Licht, das anwuchs, bis ein Spiegelbild entstand.
Sie sah Felicitas! Antigone keuchte auf. Sie sah Shin, sah Reiko. Das Lager der anderen. Ein grausames Lüstern war zu erkennen. Eine Lust nach Blut, nach Mord.
Ihr Herz raste. Mit einem Schrei riss sie sich los und presst die Hände gegen die Schläfen. Ein Zittern ließ ihren Körper nicht mehr stillstehen. Ihre Atmung ging keuchend.
Der Zirkus, das Lager der anderen. Visionen gruben sich in ihren Kopf. Reiko war der Beginn. Was, wenn andere folgten? Was, wenn ihr gesamter Zirkus folgte?
***
Cael blieb zurück. Er sah Antigone nach, die plötzlich wie wahnsinnig davonstürmte, verfolgt von ihren Visionen. Ein Lächeln zog sich über seine Lippen. Allmählich verlief es nach seinem Plan. Langsam und zufrieden drehte er sich um, dann stockte er. Vor ihm saß ein Mädchen. Lange Haare, die hinter ihr noch weit den Boden bedeckten. Die Augen von dunklem Purpur. Ein Fauchen drang aus ihrer Kehle.
„Du lässt nach, kleines Mädchen“, meinte er und ging einige Schritte.
Das Mädchen schlug mit der flachen Hand auf den Boden. Ein weiteres Knurren erklang und plötzlich krabbelten etliche Spinnenwesen auf Cael zu. Gleich einem Meer aus Insekten, das direkt auf ihn zubrandete und mit jeder Bewegung an Stärke und Fülle gewann.
Cael hob die Hand, als plötzlich eine unsichtbare Welle die Realität erschütterte. Es war wie ein Wind, der durch ihn hindurchfegte, direkt auf die Spinnenarmee zu. Jäh ertönte ein Laut wie zerreißendes Pergament. Die Tiere krümmten sich, ihre Körper trockneten aus und zerfielen zu Staub. Als wären sie urplötzlich gealtert, gestorben und in Bruchteilen von Sekunden verwest.
„Es wird Zeit ins Bett zu gehen, meine Kleine.“ Eine Gestalt tauchte auf und erreichte das Spinnenmädchen. Wie beiläufig berührte der Mann ihre Stirn und die Augen von Clotho schlossen sich mit einem Zischen.
„Ich hätte deine Hilfe nicht gebraucht.“ Cael hob eine Augenbraue.
„Ich weiß.“ Ein Lächeln erschien auf Maurices Gesicht. „Ich kümmere mich aber gerne um das Mädchen. So wie du dich um jemand
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