Zirkuskind
an,
Liebchen«, sagte Julia. »›Früh im Leben, im Alter von fünfzehn, machte ich mir die
gefährliche Gewohnheit zu eigen, ein Tagebuch zu führen, und behielt sie zehn Jahre
lang bei. Die Hefte blieben in meinem Besitz, unbeachtet – und ohne daß je ein Blick
hineingeworfen wurde – bis 1870, als ich sie noch einmal durchlas und, unter mannigfachem
Erröten, vernichtete. Sie überführten mich der Dummheit, Ignoranz, Indiskretion,
Faulheit, Übertreibung und Täuschung. Aber sie hatten mich an den blitzschnellen
Gebrauch von Tinte und Feder gewöhnt und mir Übung darin verschafft, mich mit Leichtigkeit
auszudrücken.‹«
»Ich möchte und
ich brauche kein Tagebuch führen«, sagte Farrokh unvermittelt. »Ich habe bereits
gelernt, mich mit Leichtigkeit auszudrücken.«
»Kein Grund, gleich
so ablehnend zu reagieren«, sagte Julia. »Ich dachte nur, das Thema würde dich interessieren.«
»Ich möchte etwas
schaffen«, verkündete Dr. Daruwalla. »Ich bin nicht daran interessiert, über die
prosaischen Einzelheiten meines Lebens Buch zu führen.«
»Mir war nicht bewußt,
daß unser Leben ausschließlich prosaisch ist«, entgegnete Julia.
Der Doktor, der
seinen Fehler erkannte, sagte: »Das ist es auch nicht. Ich habe nur gemeint, daß
ich es lieber mit etwas Phantasievollem versuchen möchte. Ich möchte mir etwas ausdenken.«
»Meinst du damit
Prosa?« fragte seine Frau.
»Ja«, sagte Farrokh.
»Im Idealfall würde ich gern einen [295] Roman schreiben, aber vermutlich brächte ich
keinen sehr guten zustande.«
»Na ja, es gibt
alle möglichen Arten von Romanen«, sagte Julia in ihrer hilfreichen Art.
Derart ermutigt,
holte Dr. Daruwalla James Salters Ein Spaß und ein Zeitvertreib aus seinem Versteck unter der Zeitung
auf dem Boden neben dem Bett hervor. Er hob den Roman vorsichtig auf, als könnte
er sich als gefährliche Waffe entpuppen, was ja auch zutraf.
»Zum Beispiel«,
sagte Farrokh, »glaube ich nicht, daß ich je einen so guten Roman schreiben könnte.«
Julia warf einen
raschen Blick auf den Salter, bevor sie wieder zu ihrem Trollope zurückkehrte. »Nein,
das glaube ich auch nicht«, sagte sie.
Aha! dachte der
Doktor. Dann hat sie ihn also gelesen! Aber er fragte betont gleichgültig: »Hast
du ihn gelesen?«
»Ja«, sagte seine
Frau, ohne den Blick von ihrem Buch zu heben. »Ich habe ihn mitgenommen, um ihn
ein zweites Mal zu lesen.«
Es fiel Farrokh
schwer, unbeteiligt zu bleiben, aber er gab sich Mühe. »Dann hat er dir also gefallen,
nehme ich an«, sagte er.
»Ja, sehr gut«,
antwortete Julia. Nach einer bedeutungsschweren Pause fragte sie ihn: »Und dir?«
»Ich finde ihn ziemlich
gut«, gab der Doktor zu. »Allerdings könnte ich mir denken«, fügte er hinzu, »daß
es Leser gibt, die an bestimmten Stellen Anstoß nehmen oder schockiert sind.«
»Ja, mag sein«,
pflichtete Julia ihm bei. Dann klappte sie den Trollope zu und sah ihn an. »An welche
Stellen denkst du denn?«
Es spielte sich
nicht genau so ab, wie er es sich vorgestellt hatte, aber genau das hatte er erreichen
wollen. Da Julia die meisten Kissen hatte, rollte er sich auf den Bauch und stützte
sich [296] auf die Ellbogen. Er begann mit einem eher behutsamen Abschnitt. »›Endlich
hält er inne‹«, las Farrokh laut vor. »›Er beugt sich hinüber, um sie zu bewundern,
doch sie sieht ihn nicht. Haar bedeckt ihre Wange. Ihre Haut wirkt sehr blaß. Er
küßt sie auf die Seite und beginnt dann, ohne Druck, so wie man eine Lieblingsstute
streichelt, aufs neue. Sie erwacht mit einem leisen, erschöpften Stöhnen, wie jemand,
der vor dem Ertrinken gerettet wurde.‹«
Julia rollte sich
ebenfalls auf den Bauch, wobei sie sich die Kissen unter die Brust stopfte. »Man
kann sich kaum vorstellen, daß jemand diese Stelle schockierend oder anstößig findet«,
sagte sie.
Dr. Daruwalla räusperte
sich. Der Deckenventilator bewegte den Flaum in Julias Nacken; ihr dichtes Haar
war nach vorn gefallen, so daß es die Augen verdeckte. Wenn er die Luft anhielt,
konnte er sie atmen hören. »›Sie kann nicht genug kriegen‹«, las er, während Julia
das Gesicht in den Armen vergrub. »›Sie läßt ihn nicht in Frieden. Sie zieht ihre
Kleider aus und ruft ihn zu sich. Einmal in dieser Nacht und zweimal am nächsten
Morgen kommt er ihrem Wunsch nach, und in der Dunkelheit dazwischen liegt er wach,
die Lichter von Dijon schwach an der Decke, die Boulevards leer und still. Es ist
eine bitterkalte Nacht.
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