Zirkuskind
Feiertagen.
Und obwohl der Doktor damals noch nicht religiös war, hatte er nichts gegen ein
paar Festessen einzuwenden.
Die Katholiken bildeten
nicht mehr die Mehrheit der [292] goanischen Bevölkerung – die Wanderarbeiter der Eisenminen,
die zu Beginn dieses Jahrhunderts hierhergekommen waren, waren Hindus –, aber Farrokh
hielt, wie sein Vater, hartnäckig an dem Glauben fest, daß »die Katholiken« Goa
nach wie vor überschwemmten. Der portugiesische Einfluß lebte in der monumentalen
Architektur, die Dr. Daruwalla sehr bewunderte, ebenso weiter wie in der hiesigen
Küche, die der Doktor so liebte. Unter den Namen, die christliche Fischer ihren
Booten gaben, war »Christkönig« durchaus üblich. In Bombay waren Autoaufkleber,
sowohl humorvoller als auch missionarischer Art, eine neue, wenn auch noch nicht
weitverbreitete Modeerscheinung; der Doktor meinte scherzhaft, die Bootsnamen der
christlichen Fischer seien eben die goanische Variante der Autoaufkleber. Julia
goutierte das so wenig wie Farrokhs ständige Spötteleien über die beschädigten Überreste
des heiligen Franz Xaver.
»Ich weiß nicht,
wie irgend jemand diese Heiligsprechung rechtfertigen kann«, sagte Dr. Daruwalla
nachdenklich zu John D., hauptsächlich weil Julia sich weigerte, ihrem Mann zuzuhören,
aber auch weil der junge Mann ein paar Theologievorlesungen besucht hatte. In Zürich,
so vermutete Farrokh, war das bestimmt protestantische Theologie gewesen. »Stell
dir das bloß mal vor!« belehrte Farrokh den jungen Mann. »Eine gewalttätige Frau
verschluckt die Zehe des heiligen Franz Xaver, und dann schneiden sie ihm auch noch
einen Arm ab und schicken ihn nach Rom!«
John D. lächelte
und fuhr schweigend mit seinem Frühstück fort. Die drei Töchter lächelten John D.
hilflos an. Als Farrokh zu seiner Frau hinübersah, stellte er überrascht fest, daß
sie ihn unverwandt anblickte – sie lächelte ebenfalls. Sie hatte offensichtlich
kein Wort von dem mitbekommen, was er gesagt hatte. Der Doktor errötete. Julias
Lächeln war nicht im mindesten zynisch; im Gegenteil, ihr Gesichtsausdruck war so
aufrichtig [293] verliebt, daß Farrokh davon überzeugt war, daß sie ihn unbedingt an
die Freuden der letzten Nacht erinnern wollte – sogar vor John D. und den Kindern!
Ihrer gemeinsamen Nacht und Julias sichtlich lüsternen Gedanken am folgenden Morgen
nach zu schließen, waren aus ihrem Urlaub doch noch zweite Flitterwochen geworden.
Im Bett zu lesen
würde ihnen nie mehr unschuldig vorkommen, dachte der Doktor, obwohl alles ganz
unschuldig angefangen hatte. Seine Frau hatte den Trollope gelesen, und Farrokh
hatte überhaupt nicht gelesen; er hatte versucht, den Mut aufzubringen, vor Julia Ein
Spaß und ein Zeitvertreib zu lesen. Doch statt dessen lag er auf dem Rücken und hatte die
Hände auf dem grummelnden Bauch verschränkt – zuviel Schweinefleisch, oder vielleicht
hatte ihn auch das Gespräch während des Abendessens aufgeregt. Bei Tisch hatte er
seiner Familie zu erklären versucht, daß er das Bedürfnis hatte, kreativer zu sein,
daß er den Wunsch verspürte, etwas zu schreiben, aber seine Töchter hatten gar nicht
auf ihn geachtet, und Julia hatte ihn mißverstanden. Sie hatte ihm eine Kolumne
mit medizinischen Ratschlägen und Tips vorgeschlagen – nicht unbedingt für die ›Times
of India‹, aber vielleicht für ›The Globe and Mail‹. John D. hatte Farrokh geraten,
Tagebuch zu führen. Er habe früher selbst eines geführt, meinte der junge Mann,
und es habe ihm Spaß gemacht – bis eine Freundin es gestohlen habe, danach habe
er damit aufgehört. An diesem Punkt entgleiste die Unterhaltung völlig, weil die
Töchter Daruwalla John D. mit Fragen nach der Anzahl seiner Freundinnen löcherten.
Schließlich war
es das Ende der sechziger Jahre, und selbst unschuldige junge Mädchen redeten so
daher, als wären sie sexuell erfahren. Es irritierte Farrokh, daß seine Töchter
John D. rundheraus fragten, mit wie vielen jungen Frauen er geschlafen hatte. Typisch
für ihn und zu Dr. Daruwallas großer Erleichterung war der junge Mann der Frage
geschickt und charmant [294] ausgewichen. Aber das Thema der ungenutzten Kreativität
des Doktors war damit vom Tisch oder wurde einfach übergangen.
Julia war es jedoch
nicht entgangen. Später im Bett, mit mehreren dicken Kissen im Rücken – während
Farrokh flach auf dem Rücken lag –, hatte seine Frau ihn mit dem Trollope überfallen.
»Hör dir das
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