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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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vermochte, wenn es ihr paßte.
    Das also war die
schlechte Nachricht, die Farrokh für Julia hatte: Zwei widerwärtige Duckworthianer
waren im Hotel Bardez eingetroffen, das sich als einer ihrer bevorzugten Aufenthaltsorte
entpuppte. Aber die gute Nachricht war Ein Spaß und ein Zeitvertreib von James Salter, denn Farrokh war
neununddreißig, und es war lange her, seit ein Buch geistig und körperlich so von
ihm Besitz ergriffen hatte.
    Dr. Daruwalla begehrte
seine Frau – so plötzlich, so beunruhigend, so schamlos, wie er sie je begehrt hatte –, und er staunte über die Macht von James Salters Prosa, die das zuwege brachte:
ästhetisch ansprechend zu sein und zugleich sehr viel mehr bei ihm zu bewirken als
einen einfachen Ständer. Der Roman erschien ihm wie eine einzige grandiose Verführung;
er hatte alle seine Sinne angeregt.
    Der Sand am Strand
kühlte allmählich ab; mittags war er so brennend heiß gewesen, daß man ihn nur mit
Sandalen hatte überqueren können, aber jetzt hatte er die ideale Temperatur. Während
der Doktor barfuß durch den angenehm warmen Sand ging, schwor er sich, einmal ganz
früh aufzustehen, um den Sand in seinem kühlsten Zustand zu erleben, aber dann vergaß
er es wieder. Aber ohne Zweifel regten sich in ihm erneut Flitterwochengefühle.
Ich werde James Salter einen Brief schreiben, beschloß er. Für den Rest seines Lebens
sollte er es bedauern, daß er diesen Vorsatz nicht ausgeführt hatte, aber an diesem
Junitag – im Jahr 1969 an der Baga-Beach in Goa – fühlte er sich vorübergehend wie
neugeboren. Nur noch ein Tag trennte ihn von der Begegnung mit der Fremden, deren
Stimme auf dem [287]  Anrufbeantworter ihm zwanzig Jahre später noch immer Angst einzujagen
vermochte.
    »Ist er das? Ist
das der Doktor?« würde sie fragen. Als der Doktor diese Frage zum erstenmal hörte,
hatte er keine Ahnung von der Welt, an deren Schwelle er stand.

[288]  10
    Wege, die sich kreuzen
    Ein Syphilistest
    Im Hotel
Bardez informierten die Angestellten an der Rezeption Dr. Daruwalla, daß die junge
Frau den ganzen Weg von einer Hippie-Enklave in Anjuna bis hierher am Strand entlanggehumpelt
sei. Offenbar suchte sie die Hotels nach einem Arzt ab. »Gibt’s hier einen Arzt?«
hatte sie gefragt. Sie waren stolz darauf, daß sie sie weggeschickt hatten, warnten
jedoch den Doktor, daß sie bestimmt zurückkommen würde, denn an der Calangute-Beach
würde sie niemanden finden, der sich um ihren Fuß kümmerte, und falls sie es bis
Aguada schaffte, würde man sie dort abweisen. So, wie sie aussah, war es gut möglich,
daß sogar jemand die Polizei rief.
    Farrokh hatte das
Bedürfnis, den guten Ruf der Parsen, denen man Fairneß und soziale Gerechtigkeit
nachsagte, aufrechtzuerhalten; auf alle Fälle wollte er den Verkrüppelten und Verstümmelten
helfen – und ein humpelndes Mädchen fiel zumindest in eine Patientenkategorie, mit
der der Orthopäde vertraut war. Schließlich wurden seine Dienste ja nicht benötigt,
um einen Rahul Rai »komplett« zu machen. Trotzdem konnte Farrokh den Angestellten
des Hotels nicht böse sein. Sie hatten die hinkende junge Frau nur aus Rücksicht
auf Dr. Daruwallas Privatsphäre weggeschickt; sie hatten ihn lediglich abschirmen
wollen, obwohl es ihnen zweifellos Spaß machte, diese Person, die nach einem Freak
aussah, schlecht zu behandeln. Die Goaner hatten, vor allem gegen Ende der sechziger
Jahre, die Nase voll von europäischen und amerikanischen Hippies, die ihre [289]  Strände
bevölkerten, kaum Geld ausgaben – einige klauten sogar – und die wohlhabenderen
Touristen aus dem Westen und aus Indien, die man gern nach Goa locken wollte, nur
abschreckten. Aber Dr. Daruwalla teilte den Angestellten desHotel Bardez, ohne ihr
Verhalten zu tadeln, höflich mit, daßer die hinkende Hippiefrau zu untersuchen wünschte,
falls sie zurückkehrte.
    Besonders enttäuscht
von der Entscheidung des Doktors war der alte Teekellner, der zwischen dem Hotel
und den diversen sonnengeschützten Liegeplätzen am Strand hin und her schlurfte.
Diese aus vier in den Sand geschlagenen Pfählen bestehenden Konstruktionen, die
mit getrockneten Palmwedeln gedeckt waren, verteilten sich über den ganzen Strand.
Der Teekellner war mehrere Male auf Dr. Daruwalla in seiner Hängematte unter den
Palmen zugekommen, und Farrokh hatte ihn in erster Linie aus diagnostischem Interesse
sehr genau beobachtet. Der Mann hieß Ali Ahmed. Er behauptete, erst sechzig Jahre
alt zu sein, obwohl

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