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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Lüftchen zu spüren. Die Palmwedel der Areka- und der
Kokospalmen, die die Küste säumten, regten sich ebensowenig wie die riesigen alten
Cashew- und Mangobäume in den totenstillen Dörfern und Städten weiter im Landesinnern.
Und die dreirädrige Rikscha, die mit knatterndem Auspuff vorbeifuhr, konnte nicht
einmal einen Hund aufscheuchen und zum Bellen bewegen. Wäre da nicht der schwere
Geruch aus der feni -Destillerie
gewesen, hätte Dr. Daruwalla angenommen, daß sich die Luft überhaupt nicht bewegte.
    Aber die Hitze vermochte
die Begeisterung des Doktors für seinen Lunch nicht zu dämpfen. Er begann mit einer
Suppe, einem Muschel- guisado, und gekochten Garnelen in Joghurt-Senf-Sauce. Dann probierte er
das Fisch- vindaloo, das so scharf gewürzt war, daß sich
seine Oberlippe taub anfühlte und ihm auf der Stelle der Schweiß ausbrach. Dazu
trank er einen eiskalten Ingwer- feni – eigentlich waren es zwei –, und
als Nachspeise bestellte er sich bebinca, einen Schichtkuchen mit Kokosnuß. [302]  Seine Frau begnügte sich mit einem xacuti, den sie mit den Mädchen teilte;
das war ein Curry, dessen Schärfe durch Kokosnußmilch, Nelken und Muskatnuß wohltuend
abgemildert wurde. Die Töchter probierten außerdem noch ein gefrorenes Mangodessert.
Dr. Daruwalla kostete davon, aber nichts konnte das Brennen in seinem Mund lindern.
Als Gegenmittel bestellte er ein kaltes Bier. Dann tadelte er Julia, weil sie den
Mädchen erlaubte, so viel Zuckerrohrsaft zu trinken.
    »Bei der Hitze wird
ihnen von zu viel Zucker schlecht«, erklärte Farrokh seiner Frau.
    »Das mußt ausgerechnet
du sagen!« meinte Julia.
    Farrokh schmollte.
Das Bier war von einer unbekannten Brauerei, an die er sich bald nicht mehr erinnern
würde. Aber das Etikett würde er nicht vergessen, denn darauf stand: »Alkohol zerstört
das Land, die Familie und das Leben.«
    Doch auch wenn Dr.
Daruwalla ein Mensch mit unbezähmbarem Appetit war, so wirkte seine Rundlichkeit
doch nie abstoßend – dazu würde es auch nie kommen. Er war ziemlich klein, hatte
zarte Hände, eine rundes, jungenhaftes und freundliches Gesicht mit gefälligen,
wohlgeformten Zügen und dünne, drahtige Arme und Beine; der Po war ebenfalls klein,
und sein kleiner Schmerbauch unterstrich noch seinen zierlichen Wuchs, seine Adrettheit
und Sauberkeit. Er trug einen kleinen, gepflegten Bart, denn er rasierte sich auch
gerne; der Hals und die Seitenpartien des Gesichts waren normalerweise glattrasiert.
Wenn er einen Schnurrbart trug, dann war auch der ordentlich und klein. Seine Haut
war kaum dunkler als eine Mandelschale, sein Haar schwarz – bald würde es grau werden,
aber eine Glatze würde er nie bekommen. Er hatte dichtes, leicht gewelltes Haar,
das er oben lang ließ, im Nacken jedoch und über den kleinen, flach am Kopf anliegenden
Ohren kurz trug. Seine Augen waren so dunkelbraun, daß sie fast schwarz aussahen,
und weil sein Gesicht so klein war, wirkten sie groß – vielleicht [303]  waren sie es
auch. Wenn ja, dann spiegelten nur sie seinen Appetit wider. Und nur im Vergleich
zu John D. war Dr. Daruwalla vielleicht nicht für jedermann attraktiv – klein, aber
gutaussehend. Er war nicht dick, nur rundlich – ein kleiner, schmerbäuchiger Mann.
    Während der Doktor
mühsam seine Mahlzeit verdaute, überlegte er, daß die anderen vernünftiger gewesen
waren. John D. aß in der Mittagshitze grundsätzlich nichts, als wollte er in puncto
Essen jene Selbstdisziplin und Zurückhaltung an den Tag legen, die sich ein künftiger
Filmstar klugerweise zu eigen machen sollte. Er nutzte diese Tageszeit für lange
Strandspaziergänge; zwischendurch schwamm er, langsam und gemächlich, nur um sich
abzukühlen. Er bummelte so träge am Strand entlang, daß schwer auszumachen war,
ob er sich die versammelten jungen Frauen ansehen oder sich von ihnen bekucken lassen
wollte.
    In seiner schlappen
Verfassung nach dem Lunch registrierte Dr. Daruwalla kaum, daß Rahul Rai nirgends
zu sehen war. Ehrlich gesagt, war Farrokh erleichtert, daß der Möchtegern-Transsexuelle
John D. nicht verfolgte. Und Promila Rai hatte John D. nur ein kurzes Stück am Wasser
entlang begleitet, als hätte der junge Mann sie umgehend dadurch abgeschreckt, daß
er die Absicht bekundete, bis ins nächste oder übernächste Dorf zu laufen. So war
Promila mit ihrem absurd breitkrempigen Hut – als wär es nicht schon zu spät gewesen,
ihre krebsbefallene Haut zu schützen – allein zu dem Fleckchen

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