Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
er wie achtzig aussah, und er wies ein paar der leicht zu erkennenden,
auffälligen körperlichen Merkmale angeborener Syphilis auf. Als Ali Ahmed dem Doktor
zum erstenmal Tee servierte, entdeckte dieser seine »Hutchinson-Zähne«, wie die
unverkennbar tonnenförmigen Schneidezähne auch genannt werden. Die Schwerhörigkeit
des Mannes, verbunden mit der charakteristischen Trübung der Augenhornhaut, hatte
Dr. Daruwallas Diagnose bestätigt.
    Farrokh wollte Ali
Ahmed unbedingt dazu bringen, daß er sich mit dem Gesicht zur Morgensonne hinstellte,
weil er ein viertes Symptom auszumachen versuchte, das bei angeborener Syphilis
nur selten auftritt – das sogenannte Argyll-Robertson-Phänomen, das sehr viel häufiger
bei erworbener Syphilis auftaucht. Er hatte auch schon eine Idee, wie er sich den
alten Teekellner genau ansehen konnte, ohne daß dieser es merkte.
    Von seiner Hängematte
aus, in der ihm der Tee serviert [290]  wurde, blickte Dr. Daruwalla hinaus auf das
Arabische Meer. Hinter ihm, auf der Landseite, stand die Morgensonne dunstig schimmernd
über dem Dorf; aus dieser Richtung wehte der Geruch vergorener Kokosnüsse zum Strand
herüber. Während Farrokh Ali Ahmed in die trüben Augen blickte, fragte er mit geheuchelter
Unschuld: »Was ist das für ein Geruch, Ali, und woher kommt er?« Um sicher zu sein,
daß der alte Mann ihn auch hörte, sprach Farrokh ziemlich laut.
    Der Teekellner reichte
dem Doktor ein Glas Tee. Seine Pupillen waren verengt, da sie sich auf den Gegenstand
in der Nähe – das Teeglas nämlich – eingestellt hatten. Doch als der Doktor ihn
fragte, woher der kräftige Geruch kam, schaute Ali Ahmed zum Dorf hinüber. Zunächst
erweiterten sich seine Pupillen (um die fernen Wipfel der Kokos- und Arekapalmen
aufnehmen zu können), doch obwohl er sein Gesicht direkt der Sonne zuwandte, reagierten
sie nicht auf das grelle Licht – sprich: Sie zogen sich nicht zusammen. Ali Ahmed
litt unter reflektorischer Pupillenstarre, stellte Dr. Daruwalla fest, dem klassischen
Argyll-Robertson-Phänomen.
    Farrokh mußte an
Dr. Fritz Meitner denken, seinen Lieblingsprofessor für Infektionskrankheiten. Dr.
Meitner hatte seinen Medizinstudenten mit Vorliebe erzählt, am besten könne man
sich das Argyll-Robertson-Phänomen einprägen, wenn man an eine Prostituierte denke:
Sie paßt sich an, reagiert aber nicht. In der Vorlesung saßen nur männliche Studenten;
alle hatten gelacht, aber Farrokh hatte sich dabei unbehaglich gefühlt. Er war nie
bei einer Prostituierten gewesen, obwohl es die in Wien ebenso gab wie in Bombay.
    »Feni« , sagte der Teekellner, um den Geruch
zu erklären. Aber Dr. Daruwalla wußte die Antwort bereits, so wie er auch wußte,
daß bei einigen Syphilitikern die Pupillen nicht auf Licht reagieren.
    [291]  Eine literarische Verführungsszene
    Im Dorf
– oder vielleicht stammte der Geruch auch aus dem fernen Panjim – wurden Kokosnüsse
zu dem hier üblichen Gebräu namens feni destilliert. Der schwere, widerlich
süße Schnapsdunst zog über die wenigen Touristen und Familien hinweg, die an der
Baga-Beach Urlaub machten.
    Dr. Daruwalla und
seine Familie hatten es bei den Angestellten des kleinen Hotels bereits zu großer
Beliebtheit gebracht und wurden in dem kleinen, aus Brettern zusammengezimmerten
Restaurant mit Strandbar, das sie häufig aufsuchten, überschwenglich begrüßt. Der
Doktor gab gute Trinkgelder, seine Frau war eine klassische europäische Schönheit
im traditionellen Sinn (im Gegensatz zu dem schäbigen Hippievolk), seine Töchter
waren überschäumend lebhaft und hübsch – und noch ausgesprochen unschuldig –, und
der hinreißende John D. war für Inder wie ausländische Gäste gleichermaßen faszinierend.
Nur bei den wenigen Familien, die so liebenswert waren wie die Daruwallas, entschuldigte
sich das Personal des Hotels Bardez für den Geruch des feni.
    Zu dieser Jahreszeit,
in den Vormonsunmonaten Mai und Juni, mieden sowohl die Fremden, die sich hier auskannten,
als auch die Inder die Strände von Goa; es war einfach zu heiß. Es war jedoch die
Zeit, in der die in anderen Teilen Indiens lebenden Goaner nach Hause kamen, um
ihre Familien und Freunde zu besuchen. Die Kinder hatten Schulferien; Garnelen,
Hummer und Fisch gab es reichlich, und die Mangos waren richtig reif. (Dr. Daruwalla
liebte Mangos über alles.) Im Einklang mit der Urlaubsstimmung und um sämtliche
Christen zu besänftigen, beging die katholische Kirche eine Fülle von

Weitere Kostenlose Bücher