Zirkuskind
Filme keine so ernsthafte Angelegenheit wie Romane; auf alle Fälle
waren sie nicht so lang. Dr. Daruwalla ging davon aus, daß ihn die fehlende »Vision«
nicht daran hindern würde, mit einem Drehbuch Erfolg zu haben.
Aber diese Erkenntnis
deprimierte ihn. Auf der Suche nach einem Ventil für seine ungenutzte Kreativität
war er bereits einen Kompromiß eingegangen – dabei hatte er noch nicht einmal angefangen!
Dieser Gedanke bewog ihn zu überlegen, ob er sich nicht mit der Zuneigung seiner
Frau trösten sollte. Aber den fernen Balkon anzustarren brachte ihn Julia keinen
Schritt näher, und er bezweifelte, daß die Tatsache, daß er feni und Bier getankt hatte, ein kluger
Auftakt zu amourösen Eskapaden war – zumal bei der Hitze. Ein Satz von James Salter
schien in der höllischen Mittagshitze über Dr. Daruwalla zu flimmern: »Je deutlicher
man diese Welt sieht, um so mehr ist man genötigt, so zu tun, als würde sie nicht
existieren.« Es gibt immer mehr Dinge, die ich nicht weiß, dachte der Doktor.
Zum Beispiel wußte
er nicht, wie die dichte Kletterpflanze hieß, die an der Fassade emporkroch und
die Balkone im zweiten und dritten Stock des Hotel Bardez umrahmte. Ihre Ranken
wurden eifrig von kleinen, gestreiften Eichhörnchen genutzt, die daran emporhuschten.
Nachts flitzten Geckos mit ungleich größerer Geschwindigkeit und Behendigkeit daran
auf und ab. Wenn die Sonne auf diese Hotelwand schien, öffneten sich überall an
der Kletterpflanze winzige, blaßrosa Blüten, aber Dr. Daruwalla wußte nicht, daß
es nicht diese Blüten waren, die die Finken anlockten. Finken sind Samenfresser,
aber das wußte Dr. Daruwalla auch nicht, und ebensowenig wußte er, daß bei den Füßen
des grünen Papageis, der auf der Kletterpflanze hockte, zwei Zehen nach vorn und
zwei nach hinten zeigten. Das waren die Details, die er übersah und die dazu beitrugen,
daß die Liste der Dinge, die er nicht wußte, immer länger wurde. Er war einer [307] dieser
Allerweltstypen, ein Jedermann – ein bißchen verloren, ein bißchen schlecht informiert
(oder uninformiert) und ein bißchen deplaziert, wo immer er sich aufhielt. Doch
trotz seiner Wohlgenährtheit war der Doktor unleugbar attraktiv. Nicht jeder Jedermann
ist attraktiv.
Ein schmutziger Hippie
Dr. Daruwalla
wurde an dem mit Essensresten übersäten Tisch so schläfrig, daß ihm einer der Hotelboys
vorschlug, in eine Hängematte umzuziehen, die im Schatten der Areka- und der Kokospalmen
hing. Obwohl der Doktor dem Boy vorjammerte, daß sich die Hängematte vermutlich
zu nah am Strand befände, so daß ihn sicherlich Sandflöhe piesacken würden, probierte
er sie aus. Er war nicht sicher, ob sie sein Gewicht aushalten würde, aber die Hängematte
hielt. Im Augenblick konnte der Doktor keine Sandflöhe entdecken und sah sich deshalb
genötigt, dem Boy ein Trinkgeld zu geben. Dieser Boy, er hieß Punkaj, war anscheinend
einzig und allein dazu da, Trinkgelder zu kassieren, denn die Botschaften, die er
im Hotel Bardez, im angrenzenden behelfsmäßigen Restaurant und in der Strandbar
überbrachte, waren normalerweise seine eigene Erfindung und ganz und gar unnötig.
Zum Beispiel fragte Punkaj Dr. Daruwalla, ob er ins Hotel laufen und »der Mrs. Doctor«
sagen solle, daß der Doktor in Strandnähe ein Schläfchen in einer Hängematte machte.
Dr. Daruwalla sagte nein. Aber kurze Zeit später tauchte Punkaj wieder neben der
Hängematte auf und berichtete: »Die Mrs. Doctor liest etwas, was wie ein Buch aussieht.«
»Verschwinde, Punkaj«,
sagte Dr. Daruwalla, gab dem Jungen aber trotzdem ein Trinkgeld. Dann überlegte
er, ob seine Frau den Trollope oder nochmals den Salter las.
[308] In Anbetracht
seines umfangreichen Mittagessens hatte Farrokh Glück, daß er überhaupt schlafen
konnte. Das emsige Arbeiten seines Verdauungsapparates machte einen ruhigen Schlaf
unmöglich, doch trotz seines brummenden und rumorenden Magens – und eines gelegentlichen
Schluckaufs oderRülpsers – döste der Doktor immer wieder ein und träumte, schrak
dann plötzlich voller Sorge auf – seine Töchterkönnten ertrinken, sich einen Sonnenstich
holen oder sexuell mißbraucht werden – und alsbald wieder eindöste.
Während Farrokh
so zwischen Wachen und Schlafen hin und her pendelte, tauchten detaillierte Bilder
von Rahul Rais vollständiger Geschlechtsumwandlung vor seinem inneren Auge auf und
verschwanden wieder, drifteten in sein Bewußtsein und wieder davon wie die
Weitere Kostenlose Bücher