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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Dämpfe
aus den feni -Destillerien. Die bizarre Verirrung
kollidierte mit Farrokhs ziemlich alltäglichen Idealen: mit seinem Glauben an die
Keuschheit seiner Töchter, mit der Treue zu seiner Frau. Fast ebenso alltäglich
war Dr. Daruwallas Vision von John D., die mit seinem Wunsch zusammenhing, der junge
Mann möge über die gemeinen Umstände seiner Geburt und die Tatsache, daß er im Stich
gelassen worden war, hinwegkommen. Wenn ich ihm dabei nur helfen könnte, träumte
Dr. Daruwalla, wäre ich eines Tages vielleicht so kreativ wie James Salter.
    Doch John D.s einzig
erkennbare positive Eigenschaften waren vergänglicher und oberflächlicher Natur.
Er sah unglaublich gut aus und besaß ein so unerschütterliches Selbstbewußtsein,
daß seine innere Ausgeglichenheit den Mangel an anderen Qualitäten überdeckte –
betrüblicherweise unterstellte der Doktor, daß John D. keine anderen Qualitäten
besaß. Farrokh war sich bewußt, daß er sich damit der Einschätzung seines Bruders
und auch seiner Schwägerin anschloß, denn beide, Jamshed wie auch Josefine, machten
sich chronisch Sorgen, der Junge würde es nie zu etwas bringen. Sie behaupteten,
er studiere einfach nur [309]  vor sich hin, »gleichgültig«, wie sie sagten, doch war
Distanz nicht auch ein unerläßlicher Charakterzug eines künftigen Schauspielers?
    Ja, warum eigentlich
nicht? John D. könnte Filmstar werden! beschloß Dr. Daruwalla, wobei er vergaß,
daß dies ursprünglich die Idee seiner Frau gewesen war. Plötzlich schien es dem
Doktor, als wäre es John D. vom Schicksal bestimmt, Filmstar zu werden – oder gar
nichts. Hier wurde Farrokh zum erstenmal klar, daß ein Anflug von Verzweiflung die
kreativen Säfte zum Fließen bringen konnte. Und diese Säfte müssen es gewesen sein,
die gemeinsam mit den wissenschaftlich besser nachweisbaren Verdauungssäften die
Phantasie des Doktors in Schwung brachten.
    Doch in dem Augenblick
weckte ein Rülpser, so besorgniserregend, daß er ihn nicht als seinen eigenen erkannte,
Dr. Daruwalla aus diesen Phantasien. Er drehte sich in seiner Hängematte um, um
sich zu vergewissern, daß seine Töchter weder durch eine Naturgewalt noch durch
Männerhand zu Schaden gekommen waren. Dann schlief er mit offenem Mund ein, während
die ausgestreckten Finger einer Hand schlaff in den Sand herabhingen.
    Traumlos verging
der Nachmittag. Der Strand begann sich abzukühlen. Eine sanfte Brise kam auf; sie
versetzte die Hängematte, in der Dr. Daruwalla lag und verdaute, in leichte Schwingungen.
Irgend etwas hatte einen sauren Geschmack in seinem Mund hinterlassen – vermutlich
das Fisch- vindaloo oder das Bier –, und er fühlte sich
aufgebläht. Er machte die Augen einen Spaltbreit auf, um festzustellen, ob sich
jemand in der Nähe seiner Hängematte befand – in dem Fall wäre es unhöflich gewesen,
einen Furz zu lassen –, und da stand diese Nervensäge Punkaj, der nutzlose Boy.
    »Sie zurückkommt«,
sagte Punkaj.
    »Geh weg, Punkaj«,
sagte Dr. Daruwalla.
    [310]  »Sie Doktor sucht
– die Hippiefrau mit krank Fuß«, sagte der Boy. Er sprach das Wort »Hiepie« aus,
so daß Dr. Daruwalla in seiner verdauungsbedingten Benommenheit immer noch nichts
begriff.
    »Geh weg, Punkaj!«
wiederholte der Doktor. Dann sah er die junge Frau auf sich zuhinken.
    »Ist
er das? Ist das der Doktor?« fragte sie Punkaj.
    »Sie da warten!
Ich zuerst Doktor fragen!« sagte der Boy zu ihr. Auf den ersten Blick wirkte sie
wie achtzehn oder auch fünfundzwanzig, eine junge Frau mit kräftigen Knochen, breiten
Schultern, schweren Brüsten und dick um die Hüften. Sie hatte auch dicke Fesseln
und sehr kräftig aussehende Hände, mit denen sie den Boy vorn am Hemd packte, vom
Boden weghob und rückwärts in den Sand warf.
    »Fick dich ins Knie«,
sagte sie zu ihm. Punkaj rappelte sich auf und lief ins Hotel zurück. Farrokh schwang
seine Beine unsicher aus der Hängematte und sah die Frau an. Als er aufstand, war
er überrascht, wie sehr die Brise des Spätnachmittags den Sand abgekühlt hatte;
und er war überrascht, daß die junge Frau um so viel größer war als er. Rasch bückte
er sich, um in seine Sandalen zu schlüpfen. Da erst sah er, daß sie barfuß war –
und daß der eine Fuß fast doppelt so dick war wie der andere. Während der Doktor
noch auf einem Bein kniete, drehte die junge Frau ihren geschwollenen Fuß so, daß
Farrokh die dreckige, entzündete Fußsohle sehen konnte.
    »Ich bin in Glasscherben
getreten«,

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