Zirkuskind
sagte sie langsam. »Ich dachte, ich hätte sie alle rausgezogen, aber
anscheinend doch nicht.«
Er nahm ihren Fuß
in die Hand und spürte, wie sie sich schwer auf seine Schulter stützte, um das Gleichgewicht
nicht zu verlieren. Sie hatte mehrere kleine Fleischwunden, alle geschlossen und
gerötet und infiziert, und auf ihrem Fußballen saß eine entzündete Geschwulst, so
groß wie ein Ei; sie hatte in der [311] Mitte einen zwei Zentimeter langen, nässenden
Riß, auf dem sich Schorf gebildet hatte.
Dr. Daruwalla blickte
zu der jungen Frau auf, aber sie sah nicht zu ihm hinunter, sondern schaute irgendwo
in die Gegend. Der Doktor war nicht nur über ihre Größe bestürzt, sondern auch über
ihre kompakte Statur. Sie hatte eine füllige, frauliche Figur und Muskeln wie ein
Feldarbeiter. Ihre schmutzigen, unrasierten Beine waren voll struppiger, goldener
Härchen, und ihre abgeschnittene Jeans war an der Schrittnaht ein Stück weit aufgerissen,
so daß ein empörendes Büschel ihres goldenen Schamhaars herausspitzte. Sie trug
ein schwarzes, ärmelloses T-Shirt mit einem silbernen Totenschädel und darunter
gekreuzten Knochen, und ihre lose baumelnden Brüste hingen über Farrokh wie eine
Drohung. Als er aufstand und ihr ins Gesicht sah, stellte er fest, daß sie nicht
älter als achtzehn sein konnte. Sie hatte dicke, runde Backen voller Sommersprossen,
und ihre Lippen waren von der Sonne völlig aufgebrannt. Sie hatte eine kleine, kindliche
Nase, ebenfalls verbrannt, und blonde Haare, die fast schon weiß gebleicht und von
dem Sonnenöl, mit dem sie normalerweise das Gesicht einrieb, matt und verklebt waren.
Ihre Augen verblüfften
Dr. Daruwalla, nicht nur wegen des blassen, eisigen Blaus, sondern weil sie ihn
an die Augen eines Tieres erinnerten, das nicht ganz wach war – nicht ganz auf der
Hut. Sobald sie merkte, daß er sie ansah, zogen sich ihre Pupillen zusammen und
fixierten ihn – auch wie bei einem Tier. Jetzt war sie auf der Hut; mit einem Schlag
funktionierten alle ihre Instinkte. Der Doktor mußte vor ihrem starren Blick die
Augen abwenden.
»Ich glaube, ich
brauche Antibiotika«, sagte die junge Frau.
»Ja, Sie haben eine
Infektion«, sagte Dr. Daruwalla. »Ich muß in die Schwellung hineinschneiden. Da
ist etwas drin, und das muß heraus.« Sie hatte eine ausgewachsene Infektion; [312] außerdem
hatte der Doktor die bläuliche Verfärbung im Bereich der Lymphbahnen bemerkt.
Die junge Frau zuckte
die Achseln, und bereits bei dieser kleinen Bewegung bekam Farrokh ihren Geruch
mit. Es war nicht nur der beißende Geruch nach Achselschweiß, sondern dazu noch
etwas wie ein scharfer Uringeruch und ein schwerer, reifer Geruch – leicht faulig
oder verwest.
»Sie müssen unbedingt
sauber sein, bevor ich zu schneiden anfange«, sagte Dr. Daruwalla, während er die
Hände der jungen Frau anstarrte. Unter ihren Fingernägeln hatte sich offenbar getrocknetes
Blut gesammelt. Wieder zuckte die junge Frau mit den Achseln, und Dr. Daruwalla
wich einen Schritt zurück.
»Also… wo wollen
Sie es machen?« fragte sie und sah sich um.
Der Barkeeper an
der Strandbar beobachtete sie. In dem behelfsmäßigen Restaurant war nur ein Tisch
besetzt. Dort saßen drei Männer und tranken feni, aber selbst ihre leicht getrübten
Augen starrten unentwegt auf das Mädchen.
»In unserem Hotel
gibt es eine Badewanne«, sagte der Doktor. »Meine Frau wird Ihnen behilflich sein.«
»Ich weiß, wie man
badet«, erklärte ihm die junge Frau.
Farrokh dachte,
daß sie mit diesem Fuß unmöglich weit gelaufen sein konnte. Auf dem Weg zum Hotel
hinkte sie ziemlich stark, und als sie die Treppe zu den Zimmern hinaufgingen, stützte
sie sich schwer auf das Geländer.
»Sie sind doch nicht
den ganzen Weg von Anjuna bis hierher gelaufen, oder?« fragte er sie.
»Ich bin aus Iowa«,
antwortete sie. Einen Augenblick lang begriff Dr. Daruwalla gar nichts – er versuchte
sich an ein Iowa in Goa zu erinnern. Dann lachte er, aber sie ging nicht darauf
ein.
»Ich meinte, wo
in Goa halten Sie sich auf?« fragte er sie.
»Ich halte mich
nicht auf«, sagte sie. »Ich nehme die Fähre nach Bombay, sobald ich wieder gehen
kann.«
[313] »Aber wo haben
Sie sich in den Fuß geschnitten«, fragte er.
»An irgendwelchem
Glas«, sagte sie. »Irgendwo in der Nähe von Anjuna.«
Diese Unterhaltung
und ihr Anblick beim Treppensteigen setzten Dr. Daruwalla ziemlich zu. Er ging voraus
in seine Suite, weil er Julia vorwarnen wollte,
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