Zirkuskind
daß er am Strand eine Patientin
aufgelesen hatte, oder vielmehr, daß sie ihn aufgelesen hatte.
Farrokh und Julia
warteten auf dem Balkon, während die junge Frau ein Bad nahm. Sie warteten ziemlich
lange, starrten – ohne viele Worte – auf den ramponierten Leinenrucksack des Mädchens,
den sie auf dem Balkon liegengelassen hatte. Offenbar hatte sie nicht vor, etwas
Frisches anzuziehen, oder vielleicht waren die Sachen im Rucksack noch schmutziger
als die, die sie anhatte, obwohl man sich das kaum vorstellen konnte. Auf den Rucksack
waren eigenartige Stoffembleme aufgenäht – die typischen Zeichen der Zeit, wie Dr.
Daruwalla vermutete. Er erkannte das Friedenssymbol, die pastellfarbenen Blumen,
Bugs Bunny, eine amerikanische Flagge mit aufgesetztem Schweinskopf und noch einen
silbernen Totenschädel mit gekreuzten Knochen. Die Karikatur eines schwarz-gelben
Vogels mit drohendem Gesichtsausdruck erkannte er nicht, bezweifelte aber, daß es
sich um eine Variante des amerikanischen Adlers handelte. Der Doktor konnte Herky
the Hawk, das grimmige Symbol der Sportmannschaften von der Universität Iowa, unmöglich
kennen. Als er genauer hinsah, konnte er unter dem schwarz-gelben Vogel GO, HAWKEYES ! lesen.
»Sie muß irgendeinem
seltsamen Verein angehören«, sagte der Doktor zu seiner Frau. Julia seufzte nur.
Ihre Gleichgültigkeit war geheuchelt, denn tatsächlich hatte sie noch immer einen
leichten Schock vom Anblick der drallen jungen Frau, ganz zu schweigen von den dicken,
blonden Haarbüscheln in ihren Achselhöhlen.
Im Bad ließ das
Mädchen die Badewanne zweimal voll- und [314] wieder leerlaufen. Das erste Mal diente
zum Rasieren der Beine, nicht aber der Achselhöhlen – sie betrachtete ihre Achselhaare
als äußeres Zeichen der Auflehnung; diese und ihre Schamhaare waren ihr »Pelz«.
Sie benutzte Dr. Daruwallas Rasierapparat und spielte kurz mit dem Gedanken, ihn
einzustecken, aber dann fiel ihr ein, daß sie ihren Rucksack draußen auf dem Balkon
gelassen hatte. Das lenkte sie ab. Achselzuckend legte sie den Rasierapparat dorthin
zurück, wo sie ihn vorgefunden hatte. Als sie es sich in der zum zweitenmal gefüllten
Wanne bequem machte, schlief sie auf der Stelle ein – so erschöpft war sie –, wachte
aber auf, als das steigende Wasser ihren Mund erreichte. Sie seifte sich ein, schamponierte
sich die Haare, spülte sie aus. Dann zog sie den Stöpsel heraus und ließ sich anschließend,
ohne aus der Wanne zu steigen, ein drittes Bad ein.
Was sie an den Morden
verwirrte, war die Tatsache, daß sie nicht das geringste Reuegefühl verspürte. Die
Morde waren nicht ihre Schuld – ob man nun davon ausging, daß sie, ohne es zu wissen,
dafür verantwortlich war, oder nicht. Sie weigerte sich, sich schuldig zu fühlen,
weil sie absolut nichts hätte tun können, um die Opfer zu retten. Sie dachte nur
verschwommen über die Tatsache nach, daß sie gar nicht versucht hatte, die Morde
zu verhindern. Schließlich war sie auch ein Opfer, fand sie, und somit schien so
etwas wie ewige Absolution über ihr zu schweben, deutlich wahrnehmbar wie der Dampf,
der aus dem Badewasser emporstieg.
Sie stöhnte. Das
Wasser war so heiß, wie sie es aushalten konnte. Sie war erstaunt über den dreckigen
Schaum auf der Wasseroberfläche. Es war ihr drittes Bad, aber noch immer sonderte
ihr Körper Schmutz ab.
[315] 11
Der Dildo
Hinter jeder Reise steckt ein Grund
Es war
die Schuld ihrer Eltern, fand sie. Sie hieß Nancy, kam aus einer deutschstämmigen
Familie von Schweinezüchtern in Iowa und war während ihrer ganzen High-School-Zeit
in einer Kleinstadt in Iowa ein braves Mädchen gewesen. Anschließend hatte sie die
Universität in Iowa City besucht. Weil sie so blond und vollbusig war, schien sie
eine aussichtsreiche Kandidatin für die Cheerleader-Truppe, obwohl ihr das nötige
Charisma fehlte und sie am Ende doch nicht genommen wurde. Doch lernte sie durch
den Kontakt zu den Cheerleaders viele Footballspieler kennen. Es gab eine Menge
Partys, mit deren Gepflogenheiten Nancy nicht vertraut war, und so kam es, daß sie
nicht nur überhaupt zum erstenmal mit einem Jungen schlief, sondern mit ihrem ersten
schwarzen Jungen, ihrem ersten Hawaiianer und dem ersten Menschen aus Neuengland,
dem sie je begegnet war – er kam irgendwo aus Maine oder vielleicht auch aus Massachusetts.
Am Ende des ersten
Semesters wurde sie aus der Universität von Iowa hinausgeworfen. Als sie in ihr
Heimatstädtchen zurückkehrte, war
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