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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sie schwanger. Sie hielt sich nach wie vor für
ein braves Mädchen, was zur Folge hatte, daß sie sich der Empfehlung ihrer Eltern
beugte, ohne sie in Frage zu stellen: Sie würde das Baby bekommen, es zur Adoption
freigeben und sich einen Job suchen. Noch während sie das Kind austrug, fand sie
Arbeit im Haushaltswarengeschäft am Ort, in der Abteilung Futter und Saatgut. Bald
begann sie an der Klugheit des elterlichen Rats zu [316]  zweifeln – Männer im Alter
ihres Vaters machten ihr Avancen, obwohl sie schwanger war.
    Sie brachte das
Kind in Texas zur Welt – der Arzt des Waisenhauses erlaubte ihr nicht, es zu sehen,
und die Schwestern sagten ihr nicht einmal, ob es ein Junge oder ein Mädchen war –, und als sie nach Hause kam, nahmen ihre Eltern sie ins Gebet und erklärten ihr,
sie hofften, daß sie ihre Lektion gelernt habe und sich in Zukunft »anständig benehmen«
würde. Ihre Mutter sagte, sie würde darum beten, daß sich eines Tages ein rechtschaffener
Mann in der Stadt finden möge, der ihr »verzeihen« und sie heiraten würde. Ihr Vater
meinte, Gott sei »nachsichtig« mit ihr gewesen; sinngemäß meinte er damit, daß Gott
nicht dazu neigte, zweimal Nachsicht zu zeigen.
    Eine Zeitlang versuchte
Nancy, sich zu fügen, aber so viele Männer aus der Stadt versuchten, sie zu verführen
– sie gingen davon aus, daß sie leicht zu haben war –, und so viele Frauen waren
noch schlimmer: Sie gingen davon aus, daß sie bereits mit allen schlief. Diese Sorte
Strafe hatte eine eigenartige Wirkung auf Nancy. Sie führte dazu, daß sie nicht
etwa die Footballspieler verdammte, die zu ihrem Sturz beigetragen hatten, sondern
daß sie ihre eigene Naivität verfluchte. Sie weigerte sich zu glauben, daß sie unmoralisch
war, und fand es entwürdigend, sich so dumm vorzukommen. Zugleich mit diesem Gefühl
erwachte eine Wut in ihr, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. Sie fühlte sich
fremd an, und doch war diese Wut so sehr ein Teil ihrer selbst wie der Fötus, den
sie so lange in sich getragen, aber nie gesehen hatte.
    Sie beantragte einen
Paß. Sobald sie ihn bekam, klaute sie im Haushaltswarenladen – angefangen in der
Abteilung Futter und Saatgut – alles bis auf den letzten Cent. Da sie wußte, daß
ihre Familie ursprünglich aus Deutschland stammte, beschloß sie, dorthin zu fahren.
Der billigste Flug (von Chicago aus) ging nach Frankfurt. Doch wenn Iowa City schon
zu weltläufig für Nancy gewesen war, war sie erst recht unvorbereitet auf die [317]  unternehmungslustigen
jungen Deutschen, die die Gegend um den Hauptbahnhof und die Kaiserstraße bevölkerten;
dort lernte sie rasch einen hochaufgeschossenen, dunkelhaarigen Drogendealer namens
Dieter kennen. Er war der Typ des ewigen kleinen Fischs.
    Bei der ersten prickelnden,
wenn auch unbedeutenden Straftat, in die er sie hineinzog, mußte sie in den häßlichen
Seitenstraßen der Kaiserstraße, die nach deutschen Flüssen benannt sind, als Prostituierte
posieren. Sie sollte einen so gesalzenen Preis verlangen, daß ihr nur ein ausgesprochen
betuchter und ausgesprochen dummer Tourist oder Geschäftsmann in ein schäbiges Zimmer
in der Elbe- oder Moselstraße folgen würde; Dieter würde dort bereits warten. Nancy
ließ sich das Geld geben, bevor sie die Zimmertür aufschloß. Sobald sie das Zimmer
betraten, spielte Dieter den überraschten Freund, der sie grob packte und aufs Bett
schleuderte, sie wegen ihrer Untreue und Unehrlichkeit beschimpfte und sie umzubringen
drohte, während der Mann, der für ihre Dienste bezahlt hatte, unweigerlich die Flucht
ergriff. Keiner der Männer versuchte je, ihr zu helfen. Nancy machte es Spaß, die
Typen aufzugeilen; daß sie durch die Bank so feige waren, hatte etwas Befriedigendes
an sich. So zahlte sie es den Männern heim, die schuld daran waren, daß sie sich
bei Futter und Saatgut so elend gefühlt hatte.
    Dieter vertrat die
Theorie, daß sich alle Deutschen ihrer Sexualität schämten. Deshalb mochte er Indien
lieber; es war ein geistiges und zugleich sinnliches Land. Damit meinte er, daß
man dort für sehr wenig Geld alles kaufen konnte. Außer an Frauen und jungen Mädchen
dachte er vor allem an Bhang und Ganja, aber Nancy erzählte er nur etwas über das
hervorragende Haschisch – wieviel er dort dafür zahlte und wieviel er hier in Deutschland
dafür bekommen würde. Er verriet ihr nicht den ganzen Plan, nämlich daß er mit Hilfe
ihres amerikanischen Passes und ihres unbedarften Aussehens das

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