Zirkuskind
Allmählich wurde er trotzdem schläfrig. Namen von Schauspielerinnen
tauchten in seinem Gedächtnis auf und verschwanden wieder. Er sah Neelams volle
Lippen und Rekhas hübschen Mund; er dachte an Srivedis spitzbübisches Lächeln –
und an fast alle denkwürdigen Einzelheiten an Suno Walia. Im Halbschlaf dachte er,
nein, nein, es ist keine heutige Schauspielerin, wahrscheinlich nicht einmal eine
Inderin. Jennifer Jones? überlegte er. Ida Lupino? Rita Moreno? Dorothy Lamour!
Nein, nein… wo dachte er hin? Es war eine Person, deren Schönheit ungleich herber
war als die Schönheit all dieser Schauspielerinnen. Diese Erkenntnis ließ ihn beinah
wieder hellwach werden. Wäre ihm dabei zugleich die Erinnerung gekommen, die den
Schmerz in seinen Rippen verursachte, hätte es vielleicht geklickt. Aber [430] obwohl
es inzwischen ziemlich spät war, war es für ihn noch zu früh, um dahinterzukommen.
Im Ehebett von Mr.
und Mrs. Patel tat sich um dieselbespäte Stunde auf kommunikativer Ebene etwas mehr.
Nancy weinte; ihre Tränen waren, wie so oft, eine Mischung aus Kummer und Frustration.
Kommissar Patel versuchte, wie so oft, sie zu trösten.
Nancy mußte plötzlich
daran denken, was ihr widerfahren war – vielleicht zwei Wochen nachdem die letzten
Symptome des Trippers verschwunden waren. Sie hatte einen fürchterlichen Ausschlag
bekommen, rot und wund und begleitet von unerträglichem Jucken, und befürchtet,
daß es sich dabei um ein neues Stadium irgendeiner Geschlechtskrankheit handelte,
die sie sich von Dieter geholt hatte. Dazu kam, daß sich dieser Zustand nicht vor
ihrem geliebten Polizisten verheimlichen ließ. Der junge Inspektor Patel hatte sie
sofort zu einem Arzt gebracht, der sie darüber aufklärte, daß sie zu viele Malariatabletten
eingenommen hatte – es war schlicht eine allergische Reaktion. Aber sie hatte ihr
einen furchtbaren Schrecken eingejagt! Und erst jetzt fielen ihr auch die Ziegen
wieder ein.
All die Jahre hatte
sie an die Ziegen in dem Bordell gedacht, aber ganz vergessen, daß sie anfangs befürchtet
hatte, dieser scheußliche Ausschlag und das unerträgliche Jucken hätten etwas mit
den Ziegen zu tun. Das war ihre größte Angst gewesen. Zwanzig Jahre lang hatte sie,
wenn sie an die Bordelle und die dort ermordeten Frauen dachte, die Männer vergessen,
von denen ihr Dieter erzählt hatte – diese schrecklichen Männer, die Ziegen fickten.
Vielleicht hatte Dieter auch Ziegen gefickt. Kein Wunder, daß sie versucht hatte,
wenigstens das zu vergessen.
»Aber kein Mensch
fickt diese Ziegen«, versicherte ihr Vijay in diesem Augenblick.
»Was?« fragte Nancy.
»Also, ich bilde
mir nicht ein, über die Vereinigten Staaten [431] Bescheid zu wissen – oder auch nur
über bestimmte ländliche Gegenden Indiens –, aber in Bombay fickt kein Mensch Ziegen«,
versicherte ihr Vijay.
»Was?« wiederholte
Nancy. »Aber Dieter hat mir gesagt, daß sie die Ziegen ficken.«
»Also, das stimmt
einfach nicht«, sagte der Polizeibeamte. »Diese Ziegen sind Haustiere. Einige von
ihnen geben Milch, und das ist natürlich ein Vorteil – für die Kinder vermutlich.
Aber sie sind Haustiere, weiter nichts.«
»Ach, Vijay!« schluchzte
Nancy. Er mußte sie festhalten. »Dieter hat mich angelogen! Und wie er mich angelogen
hat… und ich habe es all die Jahre geglaubt! O Gott, dieser Scheißkerl!« Sie sprach
das Wort so heftig aus, daß ein Hund in der schmalen Straße unter ihnen aufhörte,
im Abfall herumzuwühlen, und zu bellen begann. Der Deckenventilator über ihren Köpfen
vermochte die dicke Luft kaum in Bewegung zu versetzen, die immer nach verstopften
Abflußrohren und nach dem Meer roch, das in ihrem Teil der Stadt weder besonders
sauber war noch sonderlich frisch roch. »O Gott, noch eine Lüge!« schrie Nancy.
Vijay hielt sie weiterhin fest, obwohl sie dabei bald beide ins Schwitzen geraten
würden. Dort, wo sie wohnten, stand die Luft still.
Die Ziegen waren
nur Haustiere. Doch zwanzig Jahre lang hatte Nancy schwer unter dem gelitten, was
Dieter ihr erzählt hatte; zuzeiten hatte es sie regelrecht physisch krank gemacht.
Die Hitze und den Abwassergeruch und die Tatsache, daß Rahul, wer immer er war,
all die Jahre ungeschoren geblieben war – all das hatte Nancy akzeptiert, aber auf
dieselbe Art und Weise, wie sie ihre Kinderlosigkeit akzeptiert hatte, unendlich
langsam und erst nach einer für ihr Gefühl schleichenden und erbarmungslosen Niederlage.
[432] Was der Zwerg so
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