Zirkuskind
Zwischenzeit, während
sie auf einen positiven Bescheid warteten, äußerte erst Nancy und dann Vijay leise
Befürchtungen, daß es vielleicht doch enttäuschend sein könnte, ein Kind zu adoptieren,
nachdem sie so gehofft hatten, selbst eines zu bekommen. Wäre es möglich gewesen,
rasch ein Kind zu adoptieren, hätten sie es längst liebgewonnen, bevor ihnen gravierende
Zweifel kamen. Aber während der langen Wartezeit verloren sie allen Mut – nicht
weil sie glaubten, sie könnten ein Adoptivkind nicht ausreichend lieben, sondern
weil sie befürchteten, das Kind würde stellvertretend für sie mit einem schweren
Schicksal bestraft.
Sie hatten einen
Fehler begangen. Sie mußten dafür büßen. Aber sie wollten nicht auch noch ein Kind
dafür büßen lassen. Und so fanden sich die Patels mit ihrer Kinderlosigkeit ab.
Nach fast fünfzehn Jahren des Wartens auf ein Kind forderte dieses Akzeptieren einen
beträchtlichen Preis. Ihre Art zu gehen, die sichtbare Teilnahmslosigkeit, mit der
sie ihre vielen Tassen und [423] Gläser Tee tranken, spiegelte dieses bewußte Sichfügen
in ihr Schicksal wider. Etwa um diese Zeit begann Nancy zu arbeiten – erst bei einer
der Adoptionsvermittlungen, die sie so peinlich genau ausgefragt hatten, dann als
freiwillige Helferin in einem Waisenhaus. Aber lange konnte sie diese Art Arbeit
nicht ertragen, weil sie sie ständig an das Kind erinnerte, das sie in Texas zur
Adoption freigegeben hatte.
Und dann, nach ungefähr
fünfzehn Jahren, kam Inspektor Patel zu der Überzeugung, daß Rahul nach Bombay zurückgekehrt
war, diesmal für immer. Die Morde verteilten sich jetzt gleichmäßig auf das Kalenderjahr;
in London hatten sie völlig aufgehört. Das hatte damit zu tun, daß Rahuls Tante
Promila endlich gestorben war und ihr Grundbesitz an der alten Ridge Road – zusammen
mit dem beträchtlichen Barvermögen, das sie ihrer einzigen Nichte vermacht hatte, auf ihre Namensvetterin,
den ehemaligen Rahul, übergegangen war. Er war Promilas Erbe, oder vielmehr – anatomisch
korrekt ausgedrückt –: Sie war Promilas Erbin. Und die neue Promila mußte nicht
lange auf ihre Aufnahme in den Duckworth Club warten, da ihre Tante gewissenhaft
die Mitgliedschaft für ihre Nichte beantragt hatte – schon bevor sie genaugenommen
eine Nichte hatte.
Diese Nichte ließ
sich mit Bedacht viel Zeit mit dem Eintritt in jene Gesellschaftskreise, die ihr
der Duckworth Club eröffnete. Sie hatte es nicht eilig, sich sehen zu lassen. Einige
Duckworthianer, die sie kennengelernt hatten, fanden sie ein kleines bißchen unfein
– und fast alle Clubmitglieder waren sich einig, daß sie, obwohl sie in der Blüte
ihrer Jahre sicher eine große Schönheit gewesen war, längst in jenes Stadium eingetreten
war, das man die mittleren Jahre nennt – und das, ohne jemals verheiratet gewesen
zu sein. Das erschien fast allen Clubmitgliedern suspekt, doch noch bevor es viel
Gerede gab, war die neue Promila Rai – erstaunlich geschwind, wenn man bedenkt,
daß kaum jemand sie wirklich kannte – verlobt. Noch dazu mit einem [424] anderen Duckworthianer,
einem ältlichen Gentleman mit ansehnlichem Vermögen und einem Anwesen an der alten
Ridge Road, das das der verstorbenen Promila Gerüchten zufolge weit in den Schatten
stellte. Die Hochzeit fand natürlich im Duckworth Club statt, leider jedoch zu einem
Zeitpunkt, zu dem sich Dr. Daruwalla gerade in Toronto aufhielt, denn vielleicht
hätte er – oder ganz bestimmt Julia – diese neue Promila, die sich so erfolgreich
als Nichte der alten Promila ausgab, wiedererkannt.
Doch bis die Daruwallas
und Inspector Dhar wieder nach Bombay kamen, wurde die neue Promila Rai mit ihrem
Ehenamen angesprochen – versehen mit zweierlei Attributen, von denen eines nie in
ihrer Gegenwart benutzt wurde. Rahul, der sich in Promila verwandelt hatte, war
seit kurzem die schöne Mrs. Dogar, wie der alte Mr. Sethna sie normalerweise anredete.
Ja, natürlich –
der ehemalige Rahul war kein anderer als die zweite Mrs. Dogar, und jedesmal, wenn
Dr. Daruwalla den stechenden Schmerz in den Rippen spürte, wo er in der Eingangshalle
des Duckworth Club mit ihr zusammengeprallt war, forschte er in seinem vergeßlichen
Hirn irrtümlich nach jenen längst verblaßten Filmstars, die er sich auf seinen Lieblingsvideos
immer und immer wieder ansah. Doch dort würde Farrokh sie nie finden. Rahul versteckte
sich nicht in alten Filmen.
Die Polizei weiß, daß nicht der Film schuld
ist
Gerade
als
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