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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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alles sieht
    Es war
spät. Während sich Nancy in den Schlaf weinte und Dr. Daruwalla nicht darauf kam,
daß ihn die zweite und schöne Mrs. Dogar an Rahul erinnert hatte, fuhr Vinod eine
von Mr. Gargs Schönheitstänzerinnen aus dem Wetness Cabaret nach Hause.
    Sie war eine Marathin
in mittleren Jahren, die sich Muriel nannte (das war nicht ihr wirklicher Name,
sondern ihr Künstlername als Tänzerin) und ganz durcheinander war, weil ein Gast
des Wetness Cabaret, während sie tanzte, eine Orange nach ihr geworfen hatte. Für
Muriel stand fest, daß die Klientel des Wetness Cabaret ziemlich übel war. Trotzdem,
sagte ihr ihre Vernunft, war Mr. Garg ein Gentleman. Garg hatte gemerkt, daß der
Vorfall mit der Orange Muriel aus der Fassung gebracht hatte, und persönlich Vinods
Luxustaxi gerufen, um Muriel nach Hause bringen zu lassen.
    Obwohl Vinod Mr.
Gargs humanitäre Bemühungen um weggelaufene Kindprostituierte gelobt hatte, wäre
der Zwerg nicht so weit gegangen, Mr. Garg als Gentleman zu bezeichnen; aber möglicherweise
benahm sich Garg gegenüber Frauen in mittleren Jahren ja eher wie ein Gentleman.
Bei jüngeren Mädchen war Vinod da nicht so sicher. Er konnte Dr. Daruwallas Mißtrauen
gegenüber Mr. Garg nicht ganz teilen, obwohl er und Deepa gelegentlich auf Kindprostituierte
gestoßen waren, die man allem Anschein nach vor Garg in Sicherheit bringen mußte.
Rettet dieses arme Kind, schien Mr. Garg zu sagen. Mag sein, daß er damit meinte,
rettet es vor mir .
    Vinod und Deepa
hätte es bei ihren Rettungsbemühungen nicht geholfen, wenn Dr. Daruwalla Garg wie
einen Verbrecher behandelt hätte. Das zuletzt weggelaufene Mädchen, das ohne Knochen
– eine potentielle Kautschukfrau –, war dafür ein Beispiel. Obwohl ihre Beziehung
zu Mr. Garg offenbar persönlicher war, als sie hätte sein sollen, half ihr das bei
Dr. Daruwalla nicht [433]  weiter. Der Doktor mußte ihr ein Gesundheitsattest ausstellen,
sonst würde der Great Blue Nile sie nicht nehmen.
    Jetzt bemerkte Vinod,
daß die Frau mit dem englischen Künstlernamen Muriel eingeschlafen war. Sie machte
ein mürrisches Gesicht, der Mund stand unappetitlich offen, und ihre Hände lagen
auf den fetten Brüsten. Nach Ansicht des Zwergs war es vernünftiger, eine Orange
nach ihr zu werfen, als ihr beim Tanzen zuzuschauen. Aber Vinods humanitäre Empfindungen
erstreckten sich sogar auf Stripperinnen in mittleren Jahren. Er verlangsamte das
Tempo, weil die Straßen holprig waren und er keinen Grund sah, die arme Frau aufzuwecken,
bevor sie zu Hause angelangt war. Im Schlaf krümmte sich Muriel plötzlich zusammen.
Der Zwerg stellte sich vor, daß sie einer Orange auswich.
    Nachdem Vinod Muriel
abgesetzt hatte, war es zu spät, um irgendwo anders hinzufahren als wieder ins Bordellviertel,
denn der Rotlichtbezirk war der einzige Teil Bombays, in dem um zwei Uhr morgens
noch Taxis benötigt wurden. Zwar würden bald Touristen aus aller Welt im Oberoi
Towers und im Taj Mahal eintreffen, aber Leute, die gerade erst aus Europa oder
Nordamerika hier angekommen waren, hatten sicher keine Lust auf eine Stadtrundfahrt.
    Vinod wollte das
Ende der letzten Show im Wetness Cabaret abwarten; irgendeine exotische Tänzerin
würde sicher nach Hause gebracht werden wollen. Es erstaunte Vinod, daß Mr. Garg
im Wetness Cabaret »zu Hause« war, denn er selbst konnte sich nicht vorstellen,
dort zu übernachten. Er vermutete zwar, daß es im ersten Stock, über der glitschigen
Bar, den klebrigen Tischen und der abschüssigen Bühne, ein paar Zimmer gab, aber
bei dem Gedanken an die matt erleuchtete Bar, die grell erleuchtete Bühne, die in
Dunkel getauchten Tische, an denen lauter Männer saßen – und zum Teil masturbierten,
auch wenn im Wetness Cabaret der Uringeruch vorherrschte –, schauderte der Zwerg.
Wie [434]  konnte Garg in so einem Lokal schlafen, und sei es im Stockwerk darüber?
    Doch obwohl es Vinod
zuwider war, im Bordellviertel herumzugondeln, als hätte er einen Kunden auf dem
Rücksitz seines Ambassador, hatte er nun mal entschieden, daß er ebensogut wach
bleiben konnte. Vinod fand diese nächtliche Zeit, zu der die meisten Bordelle den
Betrieb umstellten, faszinierend. In Kamathipura, entlang der Falkland und der Grant
Road, nahte die frühmorgendliche Stunde, in der die meisten Bordelle nur noch Kunden
für die ganze Nacht einließen. Nach Ansicht des Zwergs waren das völlig andere Männer,
verzweifelte Männer. Wer sonst würde schon die ganze Nacht

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