Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
wo sich Roopa für das völlig zerfallene Hammelfleisch entschuldigte und damit
auf ihre Weise zum Ausdruck brachte, daß an diesem zermanschten Fleisch in ihrem
geliebten dhal nur der Doktor schuld war, was ja
auch stimmte. Dhar fragte den Doktor, ob er die neuen Schmähbriefe schon gelesen
habe – hatte er nicht. Ein Jammer, meinte John D., denn womöglich war es der letzte
Schwung Post von den erzürnten Prostituierten. Er hatte von Balraj Gupta, dem Regisseur,
erfahren, daß der neue Inspector-Dhar-Film (Inspector Dhar und die Türme des
Schweigens) morgen
anlaufen würde. Danach, sagte John D. mit ironischem Unterton, würde er vermutlich
von sämtlichen beleidigten Parsen böse Briefe bekommen.
    »Was, morgen?« rief
Dr. Daruwalla.
    »Um genau zu sein,
nach Mitternacht«, sagte Dhar.
    Dr. Daruwalla hätte
es wissen müssen. Wann immer Balraj Gupta ihn anrief und irgendwelche Schritte mit
ihm zu besprechen wünschte, die er unternehmen wollte, bedeutete das unweigerlich,
daß er sie bereits in die Wege geleitet hatte.
    »Reden wir nicht
mehr über diesen Pipifax!« sagte Farrokh zu seiner Frau und John D. Dann holte er
tief Luft und berichtete den beiden alles, was ihm der Kommissar mitgeteilt hatte.
    Julia fragte nur:
»Wie viele Morde hat dieser Kerl denn begangen? Wie viele Opfer sind es?«
    »Neunundsechzig«,
sagte Dr. Daruwalla. Daß Julia nach Luft schnappte, war weniger überraschend als
John D.s unangemessene Gelassenheit.
    [428]  »Ist Mr. Lal
da schon mitgerechnet?« fragte Dhar.
    »Mit Mr. Lal sind
es siebzig… falls Mr. Lal wirklich etwas damit zu tun hat«, antwortete Farrokh.
    »Natürlich hat er
was damit zu tun«, sagte Inspector Dhar, und wie üblich irritierte Dr. Daruwalla,
daß sich seine erfundene Figur wieder einmal anhörte wie ein Experte; allerdings
übersah Farrokh dabei, daß Dhar eben ein guter Schauspieler mit solider Ausbildung
war. Er hatte seine Rolle gewissenhaft studiert und sich viele ihrer Facetten angeeignet.
Somit war er unwillkürlich ein recht guter Spürhund geworden, während sich Dr. Daruwalla
die Figur nur ausgedacht hatte. Für Farrokh, der sich von einem Drehbuch zum nächsten
kaum an seine Recherchen über diverse Teilaspekte der Polizeiarbeit erinnern konnte,
war die Person des Inspector Dhar reine Fiktion. Dhar hingegen vergaß diese differenzierteren
Einzelheiten und seine keineswegs originellen Texte nur selten. Dr. Daruwalla war
als Drehbuchautor bestenfalls ein begabter Amateur; Inspector Dhar hingegen war
einem echten Inspektor ähnlicher, als ihm selbst oder auch seinem Erfinder bewußt
war.
    »Kann ich mitkommen,
um mir diese Fotos anzusehen?« fragte Dhar seinen Schöpfer.
    »Ich glaube, der
Kommissar wollte, daß ich sie mir alleine ansehe«, antwortete der Doktor.
    »Ich würde sie aber
gern sehen, Farrokh«, sagte John D.
    »Er sollte sie sich
ansehen, wenn er möchte!« sagte Julia aufbrausend.
    »Ich bin nicht sicher,
daß die Polizei einverstanden wäre«, sagte Dr. Daruwalla, aber Inspector Dhar winkte
ab – eine nur allzu vertraute, verächtliche Geste, die absolute Geringschätzung
ausdrückte. Farrokh spürte, daß ihm die Erschöpfung immer dichter auf den Leib rückte
– wie alte Freunde und die Familie, die sich in seiner Phantasie um sein Krankenlager
versammelten.
    Als sich John D.
zum Schlafen auf den Balkon zurückzog, [429]  wechselte Julia rasch das Thema – noch
bevor sich Farrokh ganz ausgezogen hatte.
    »Du hast es ihm
nicht gesagt!« sagte sie erregt.
    »Ach bitte, hör
mit dieser abscheulichen Zwillingsgeschichte auf! Wieso glaubst du eigentlich, daß
sie so wichtig ist? Ausgerechnet jetzt!« sagte er zu ihr.
    »Ich könnte mir
denken, daß die Ankunft seines Zwillingsbruders für John D. sehr wohl wichtig ist«,
sagte Julia entschieden. Sie ließ ihren Mann im Schlafzimmer stehen und ging ins
Bad. Später, als Farrokh aus dem Bad kam, stellte er fest, daß Julia bereits eingeschlafen
war – oder vielleicht tat sie auch nur so, als würde sie schlafen.
    Anfangs versuchte
er, auf der Seite zu schlafen, normalerweise seine bevorzugte Stellung, aber jetzt
taten ihm in dieser Lage die Rippen weh; auf dem Bauch wurden die Schmerzen noch
stärker. Auf dem Rücken konnte er auch nicht einschlafen (er neigte außerdem zum
Schnarchen) und zermarterte sich sein überreiztes Gehirn, um auf die Filmschauspielerin
zu kommen, an die er sich deutlich erinnert fühlte, als er die zweite Mrs. Dogar
schamlos angestarrt hatte.

Weitere Kostenlose Bücher