Zirkuskind
mit einer Prostituierten
verbringen wollen?
Um diese Zeit wurde
Vinod wachsam und nervös, als könnte ihm – zumal in den schmalen Straßen Kamathipuras
– ein Mann unter die Augen kommen, der nicht ganz zurechnungsfähig war. Wenn der
Zwerg müde wurde, döste er in seinem Wagen. Dort fühlte er sich mehr zu Hause als
zu Hause, zumindest wenn Deepa im Zirkus war. Und wenn Vinod sich langweilte, fuhr
er gemächlich an den Transvestitenbordellen an der Falkland und der Grant Road vorbei.
Vinod mochte die hijras, weil sie so dreist und so unverschämt waren; umgekehrt schienen
sie Zwerge zu mögen. Möglicherweise hielten die hijras Zwerge für unverschämt.
Vinod war bewußt,
daß ihn einige hijras nicht
mochten – die nämlich, die wußten, daß er Inspector Dhars Chauffeur war, die, die
über den Film Inspector Dhar und der Käfigmädchen-Killer empört waren. In letzter Zeit mußte
Vinod im Bordellviertel ein bißchen vorsichtig sein, denn seit den Morden an den
Prostituierten waren Dhar und sein Leibzwerg mehr als nur ein bißchen unbeliebt.
Deshalb wurde Vinod um die Zeit, in der die meisten Bordelle »umstellten«, wachsamer
und nervöser als sonst.
Während der Zwerg
herumgondelte, bemerkte er als einer der [435] ersten eine Veränderung, die sich vor
seinen Augen in der Stadt vollzog. Verschwunden war das Filmplakat mit seinem prominenten
Fahrgast, das überlebensgroße Bild von Inspector Dhar, an das sich Vinod und ganz
Bombay schon gewöhnt hatten – die riesigen Plakatwände, die an den Fassaden angebrachten
Reklametafeln, die Inspector Dhar und der Käfigmädchen-Killer ankündigten: Dhars gutaussehendes
Gesicht, allerdings leicht blutig; das zerrissene weiße Hemd, offen, so daß man
Dhars muskulöse Brust sehen konnte; die hübsche, übel zugerichtete junge Frau, die
über Dhars kräftiger Schulter baumelte; und, wie immer, die blaugraue, halbautomatische
Pistole in Dhars eiserner rechter Hand. Anstelle dieser alten Plakate hingegen,
überall in Bombay, brandneue. Vinod fand, daß nur die Waffe dieselbe war, obwohl
Inspector Dhars höhnisches Lächeln bemerkenswert vertraut wirkte. Inspector Dhar
und die Türme des Schweigens: Diesmal war die junge Frau, die über Dhars Schulter baumelte, auffallend
tot – und noch auffallender war, daß es sich um ein Hippiemädchen aus dem Westen
handelte.
Es war die einzige
Tageszeit, zu der man die Plakate gefahrlos anbringen konnte. Wären die Leute wach
gewesen, hätten sie sich zweifellos auf die Plakatkleber gestürzt. Die alten Plakate
im Bordellviertel waren längst heruntergerissen worden. Mag sein, daß die Prostituierten
die Plakatkleber in dieser Nacht ungeschoren ließen, weil sie zu ihrer Freude feststellten,
daß an die Stelle von Inspector Dhar und der Käfigmädchen-Killer eine neue Beleidigung trat – die
diesmal auf eine andere Bevölkerungsgruppe abzielte.
Doch bei genauerer
Betrachtung stellte Vinod fest, daß an dem neuen Plakat nicht so viel anders war,
wie er zunächst geglaubt hatte. Die junge Frau hing in der gleichen Pose über Dhars
Schulter, ob sie nun tot oder lebendig war; und auch Inspector Dhars grausames,
attraktives Gesicht blutete wieder, wenn auch an einer etwas anderen Stelle. Je
länger Vinod das neue Plakat [436] betrachtete, um so mehr Ähnlichkeit mit dem vorhergehenden
entdeckte er; es kam ihm vor, als würde Dhar sogar dasselbe zerrissene Hemd tragen.
Damit ließ sich möglicherweise erklären, warum der Zwerg mehr als zwei Stunden in
Bombay herumgefahren war, bis er bemerkte, daß ein neuer Inspector-Dhar-Film das
Licht der Welt erblickt hatte. Vinod konnte es kaum erwarten, ihn zu sehen.
Ringsum brodelte
das unbeschreibliche Leben des Rotlichtbezirks – das Feilschen und Betrügen, das
Angsteinjagen, die ungesehenen Schläge; jedenfalls stellte sich der erregte Zwerg
das so vor. So ziemlich das einzig Positive, was sich sagen ließ, war, daß quer
durch sämtliche Bordelle Bombays niemand – wirklich niemand – eine Ziege fickte.
[437] 15
Dhars Zwillingsbruder
Drei alte Missionare schlafen ein
In dieser
Woche zwischen Weihnachten und Neujahr, als der erste amerikanische Missionar in
St. Ignatius in Mazgaon eintreffen sollte, bereiteten die Jesuiten für den Jahresbeginn
1990 eine Jubiläumsfeier vor. Die Missionsstation St. Ignatius gehörte zu den Wahrzeichen
Bombays und wurde demnächst einhundertfünfundzwanzig Jahre alt. Und in all den Jahren
hatte sie ihre geistlichen und weltlichen Aufgaben
Weitere Kostenlose Bücher