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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Geistlichen Übungen mit einer lebhaften Darstellung
der Hölle und all ihrer Schrecken begann. Um sowohl die Feuer der Hölle als auch
eine Vereinigung mit Gott in mystischer Verzückung zu erblicken, brauchte man nur
den Geistlichen
Übungen zu folgen
und das »Auge der Einbildungskraft« anzurufen; der Missionar zweifelte nicht daran,
daß das das klarsichtigste Auge überhaupt war.
    »Arbeit und Wille«,
sagte Martin Mills laut. Das war sein Credo.
    »Ich habe gesagt,
scheiß auf Ihren Jesus und scheiß auf Sie!« wiederholte der Taxifahrer.
    [454]  »Gott segne Sie«,
sagte Martin. »Sogar Sie, denn was immer Sie mir antun, es ist Gottes Wille… auch
wenn Sie nicht wissen, was Sie tun.«
    Martin mußte an
Ignatius von Loyolas bemerkenswerte Begegnung mit dem Araber auf dem Esel denken,
für die er tiefe Bewunderung empfand, und an das Gespräch der beiden über die Jungfrau
Maria. Der Araber hatte gesagt, er könne zwar glauben, daß Unsere Liebe Frau ohne
einen Mann empfangen habe, aber er könne nicht glauben, daß sie auch noch Jungfrau
war, nachdem sie geboren hatte. Nachdem der Araber weitergeritten war, dachte der
junge Loyola, er sollte dem Muslim eigentlich nacheilen und ihn töten, da er sich
verpflichtet fühlte, die Ehre der Mutter Gottes zu verteidigen. Die verleumderische
Äußerung über den postnatalen Vaginazustand der Jungfrau war ungeheuerlich und durfte
nicht einfach so hingenommen werden. Wie immer suchte Loyola Gottes Willen in dieser
Sache zu ergründen. An der Weggabelung ließ er die Zügel seines Mulis locker; wenn
das Tier dem Araber folgte, würde Loyola den Ungläubigen umbringen. Aber das Muli
entschied sich für den anderen Weg.
    »Und scheiß auf
Ihren St. Ignatius!« schrie der Taxifahrer.
    »St. Ignatius, ja,
da würde ich gerne hinfahren«, antwortete Martin gelassen. »Aber fahren Sie mich,
wohin Sie wollen.« Wo immer sie hinfuhren, es würde Gottes Wille sein, glaubte der
Missionar. Er selbst war nur der Fahrgast.
    Er dachte an das
bekannte Buch des verstorbenen Pater de Mello, die Christlichen Übungen in östlicher
Form; viele dieser
Übungen hatten ihm in der Vergangenheit geholfen. Zum Beispiel gab es da eine zur
»Heilung schmerzlicher Erinnerungen«. Sooft Martin Mills von der Schande gequält
wurde, die ihm seine Eltern gemacht hatten, oder von seiner scheinbaren Unfähigkeit,
seine Eltern zu lieben, sie zu ehren und ihnen zu vergeben, befolgte er Pater de
Mellos Übung buchstabengetreu: »Denke an [455]  ein unangenehmes Ereignis zurück.« Sich
solche Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen fiel Martin nie schwer, mühsam war jedesmal
nur die Entscheidung, welche schreckliche Situation er Revue passieren lassen sollte.
»Jetzt stelle dich vor Christus den Gekreuzigten« – das verfehlte seine Wirkung
nie. Selbst Veronica Roses schlimme Taten verblaßten vor solcher Todesqual; selbst
Danny Mills’ Selbstzerstörung schien im Vergleich dazu belanglos. »Pendle zwischen
dem unangenehmen Ereignis und der Szene mit Jesus am Kreuz hin und her.« Jahrelang
hatte Martin Mills dieses Pendeln geübt. Pater de Mello, in Bombay geboren und bis
zu seinem Tod Direktor des Sadhana-Instituts für pastorale Beratung (in der Nähe
von Poona), war für ihn ein Held. Er hatte in Martin Mills den Wunsch entfacht,
nach Indien zu fahren.
    Jetzt, als die alles
einhüllende Dunkelheit allmählich den Lichtern von Bombay wich, tauchten die Körper
der obdachlosen Schläfer auf den Gehsteigen als kleine Hügel auf. Das Mondlicht
glitzerte auf der Mahim Bay. Martin konnte zwar keine Pferde riechen, als das Taxi
an der Rennbahn von Mahalaxmi vorbeischoß, aber er sah die dunkle Silhouette der
Grabmoschee des muslimischen Heiligen Haji Ali. Ihre schlanken Minarette hoben sich
deutlich gegen das Arabische Meer ab, das wie Fischschuppen glitzerte. Dann schwenkte
das Taxi vom monderleuchteten Wasser weg, und der Missionar sah die schlafende Stadt
zum Leben erwachen – sofern man das unaufhörliche sexuelle Treiben in Kamathipura
zu Recht als Leben bezeichnen durfte. Ein solches Leben hatte Martin Mills noch
nie erlebt – er hätte es sich auch nicht vorstellen können –, und er betete, daß
das kurz erspähte muslimische Mausoleum nicht das letzte heilige Bauwerk sein möge,
das er in der ihm zugedachten Zeit auf dieser vergänglichen Erde erblicken sollte.
    Er sah Menschen
aus den Bordellen auf die kleinen Gassen hinausströmen, sah die sexberauschten Gesichter
der Männer, [456]  die das

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