Zirkuskind
seinen Chef gekränkt zu fühlen.
Kein Wunder, daß
Bahadur alle früheren Dhar-Filme abscheulich fand. Er hatte gehofft, Inspector Dhar
würde vor dem Kinostart dieser neuerlichen Kränkung von beleidigten hijras oder beleidigten weiblichen Prostituierten
ermordet werden. Grundsätzlich gefiel Bahadur die Vorstellung, daß berühmte Leute
umgebracht wurden, weil er die Tatsache, daß nur sehr wenige Menschen berühmt waren,
als Beleidigung für die Masse der unbekannten Leute empfand. Zudem fand er das Taxifahren
unter seiner Würde. Er tat es nur, um einem reichen Onkel zu beweisen, daß er in
der Lage war, »sich unters Volk zu mischen«. Bahadur rechnete damit, daß dieser
Onkel ihn bald auf eine andere Schule schicken würde. Die derzeitige Übergangssituation
war bedauerlich, aber er hätte es schlechter treffen können, als für Mr. Mirza zu
arbeiten, der, genau wie Vinod, ein privates Taxiunternehmen hatte. Unterdessen
bemühte sich Bahadur in seiner Freizeit, seine Englischkenntnisse zu verbessern,
indem er sich möglichst viele ordinäre und gemeine Ausdrücke anzueignen versuchte.
Sollte Bahadur je einer berühmten Persönlichkeit begegnen, legte er Wert darauf,
daß ihm solche Ausdrücke flüssig von den Lippen gingen.
Bahadur wußte, daß
das, was über Prominente so berichtet wurde, von A bis Z übertrieben war. Er hatte
Geschichten gehört, was für ein harter Bursche Inspector Dhar angeblich sei und
daß er [452] Gewichte stemme! Ein Blick auf die mageren Arme des Missionars bewies,
daß das wieder eine typische Lüge war. Ein Reklametrick! dachte Bahadur. Er fuhr
gern an den Filmstudios vorbei, weil er hoffte, die eine oder andere Schauspielerin
chauffieren zu dürfen. Aber niemand von Bedeutung stieg je in sein Taxi ein, und
bei Asha Pictures – und beim Rajkamal Studio, beim Famous Studio und beim Central
Studio – hatte ihn die Polizei wegen Herumlungerns verwarnt. Scheiß auf diese Filmleute!
dachte Bahadur.
»Ich nehme an, Sie
wissen, wo St. Ignatius liegt«, sagte Martin Mills nervös, sobald sie losgefahren
waren. »Das ist die Missionsstation der Jesuiten, mit einer Kirche und einer Schule«,
fügte er hinzu, während er in den funkelnden Augen des Taxifahrers nach einem Zeichen
der Bestätigung forschte. Als Martin sah, daß ihn der junge Mann im Rückspiegel
beobachtete, machte er eine freundliche Geste – oder zumindest das, was er dafür
hielt: Er zwinkerte.
Jetzt reicht’s aber!
dachte Bahadur. Egal ob das Zwinkern herablassend gemeint war oder ob es sich um
die lüsterne Aufforderung eines Homosexuellen handelte – Bahadurs Entschluß stand
fest. Diesmal sollte Inspector Dhar nicht damit durchkommen, daß er das Leben in
Bombay als gewaltsame Farce hinstellte. Mitten in der Nacht wollte Dhar nach St.
Ignatius fahren! Was wollte er dort? Beten vielleicht?
Abgesehen von allem
anderen, was an Inspector Dhar falsch war, war der Mann offensichtlich auch noch
ein falscher Hindu. In Wirklichkeit war Inspector Dhar ein verfluchter Christ!
»Sie sind doch angeblich
Hindu«, sagte Bahadur zu demJesuiten.
Martin Mills war
entzückt. Seine erste Begegnung religiöser Art im missionarischen Königreich – sein
erster Hindu! Er wußte, daß das hier die Religion der Mehrheit war.
»Nun ja… nun ja«,
sagte Martin fröhlich. »Menschen aller Glaubensrichtungen müssen Brüder sein.«
[453] »Scheiß auf Ihren
Jesus und scheiß auf Sie«, sagte Bahadur gleichgültig.
»Nun ja… nun ja«,
sagte Martin. Wahrscheinlich gibt es einen richtigen Zeitpunkt zum Zwinkern und
einen falschen, dachte der frischgebackene Missionar.
Bekehrungsversuche bei den Prostituierten
Das Taxi
schlingerte durch die schwelende, stinkende Dunkelheit, aber Dunkelheit hatte Martin
Mills noch nie angst gemacht. Bei Menschenaufläufen bekam er manchmal Angst, aber
die Schwärze der Nacht empfand er nicht als bedrohlich. Und er fürchtete sich auch
nicht vor Gewalt. Er sann über den unerfüllten Traum des Mittelalters nach, Jerusalem
für Christus zurückzugewinnen. Er dachte darüber nach, daß die Pilgerfahrt des heiligen
Ignatius von Loyola nach Jerusalem voll endloser Gefahren und Mißgeschicke gewesen
war. Loyolas Versuch, das Heilige Land zu erobern, war fehlgeschlagen, weil er zurückgeschickt
wurde; doch sein sehnsüchtiger Wunsch, unerlöste Seelen zu retten, blieb bestehen.
Es war stets Loyolas Ziel gewesen, sich dem Willen Gottes zu fügen. So war es kein
Zufall, daß er zu diesem Behufe seine
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