Zirkuskind
kaute lediglich Betelnuß, nur hatte
der Jesuit das noch nie gesehen.
Dr. Daruwalla schob
Martin aus dem Wartezimmer in sein Untersuchungszimmer, weil er hoffte, daß er dort
weniger Unheil anrichten konnte. Er bestand darauf, daß Ganesh mitkam, weil er befürchtete,
der gefährliche kleine Kerl könnte sonst noch jemanden beißen. Sodann erklärte Farrokh
Martin Mills in aller Ruhe, was paan war – die in dieser Region übliche
Betelnußzubereitung. Dafür wird eine Arekanuß zusammen mit anderen Zutaten wie Rosensirup,
Anissamen und Limonenpaste in ein Betelblatt gewickelt – aber im Grunde tun die
Leute fast alles hinein, sogar Kokain. Bei alten Betelpriemern sind Lippen, Zähne
und Zahnfleisch rot gefleckt. Die Frau, der der Missionar Angst eingejagt hatte,
blutete keineswegs, sie kaute nur paan.
Endlich gelang es
Farrokh, sich von Martin Mills zu befreien. Er hoffte, A-HNO -Jeejeebhoy würde für die Untersuchung
von Ganeshs Augen ewig brauchen.
Gegen zehn Uhr hatte
das Durcheinander dieses Tages ein wahnwitziges Tempo erreicht. Es war schon jetzt
ein Tag, der Farrokh an die weißgesichtigen, dunkelhäutigen Mädchen in ihren blaßroten
Tutus denken ließ, ein richtiger Radpyramidentag, an dem alle Leute in den Klinikräumen
des Doktors zu Cancan-Musik Fahrrad zu fahren schienen. Als wollte er dieses Chaos
noch steigern, kam Ranjit, ohne anzuklopfen, ins Untersuchungszimmer gestürzt. Er
hatte soeben Dr. Daruwallas Post durchgesehen. Obwohl das Kuvert, das er ihm unter
die Nase hielt, an den Doktor adressiert war und nicht an Inspector Dhar, hatte
die kühle Neutralität der Maschinenschrift etwas Vertrautes. Schon bevor Dr. Daruwalla
in den Umschlag schaute und den Zwei-Rupien-Schein sah, wußte er, was ihn erwartete.
Trotzdem war er wie vor den Kopf gestoßen, als er die Botschaft las, die in Großbuchstaben
auf der Seite mit der Seriennummer stand. Diesmal lautete die Warnung: SIE SIND SO TOT
WIE DHAR.
[505] Madhu macht von ihrer Zunge Gebrauch
Zwischendurch
kam ein Telefonanruf, der dazu beitrug, die allgemeine Verwirrung noch zu steigern.
In seiner Bedrängnis machte Ranjit einen Fehler. Er hielt den Anrufer für den Radiologen
Patel – es ging um die Frage, wann Dr. Daruwalla kommen würde, um sich die Fotos
anzusehen. Ranjit nahm an, daß mit den »Fotos« Röntgenaufnahmen gemeint waren, und
antwortete barsch, der Doktor habe zu tun. Er oder der Doktor würden später zurückrufen,
um Bescheid zu geben. Doch nachdem Ranjit aufgehängt hatte, wurde ihm klar, daß
der Anrufer nicht der Radiologe Patel gewesen war. Natürlich war es Kommissar Patel
gewesen.
»Da war ein gewisser…
Patel für Sie am Telefon«, teilte Ranjit Dr. Daruwalla beiläufig mit. »Er möchte
wissen, wann Sie kommen, um sich die Fotos anzusehen.«
Inzwischen steckten
zwei Zwei-Rupien-Scheine in Farrokhs Tasche. Die eine Warnung galt Dhar ( SIE SIND SO TOT
WIE LAL ), die
andere ihm selbst ( SIE SIND SO TOT WIE DHAR ). Und er war überzeugt, daß ihm die Fotos, die ihm der Kommissar
zeigen wollte, in Anbetracht dieser Drohungen noch grausamer vorkommen würden.
Farrokh wußte, daß
John D., der seine Wut immer sehr gut verbarg, schon jetzt wütend auf ihn war, weil
er ihn nicht im voraus über das Eintreffen seines lästigen Zwillingsbruders unterrichtet
hatte. Und er würde noch wütender werden, wenn sich Dr. Daruwalla die Fotos von
den mit Elefanten bemalten Bäuchen der ermordeten Prostituierten ohne ihn anschauen
würde; trotzdem hielt der Doktor es für unklug, Dhar insKriminalkommissariat mitzunehmen
– und Martin Mills mitzunehmen wäre auch nicht ratsam gewesen. Das Kommissariat
befand sich in der Nähe des St. Xavier’s College, ebenfalls eine jesuitische Einrichtung.
Hier wurden Jungen und Mädchen [506] zusammen unterrichtet, während in St. Ignatius
nur Jungen aufgenommen wurden. Martin Mills würde zweifellos seine jesuitischen
Mitbrüder zu überreden versuchen, Madhu in ihre Schule aufzunehmen, falls sie sich
nicht für den Zirkus eignete. Wahrscheinlich würde der verrückte Kerl auch durchsetzen
wollen, daß St. Xavier’s allen anderen Kindprostituierten, derer man habhaft werden
konnte, Stipendien anbot! Er hatte bereits angekündigt, daß er sich wegen Ganesh
an den Pater Rektor von St. Ignatius wenden würde. Dr. Daruwalla konnte es kaum
erwarten mitzuerleben, wie Pater Julian auf den Vorschlag reagieren würde, die St.
Ignatius-Schule solle einem verkrüppelten Betteljungen von der
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