Zirkuskind
Farrokh. »Ich glaube,
damals wäre es sehr schwierig gewesen, in Indien eine vollständige Geschlechtsumwandlung
vornehmen zu lassen. Solche Operationen sind hier nach wie vor illegal.«
»Ich glaube, daß
sich unser Mörder ebenfalls nach London begeben hat«, teilte Patel dem Doktor mit.
»Offenbar ist er – oder sie – erst vor kurzem zurückgekehrt.«
»Die Person, von
der ich spreche, hatte vor, eine Kunstakademie zu besuchen… in London«, sagte Farrokh
benommen. Die Fotografien von den Zeichnungen auf den Bäuchen der ermordeten Prostituierten
standen ihm jetzt deutlich vor Augen, obwohl sie verdeckt auf dem Schreibtisch des
Kommissars lagen. Patel nahm eine in die Hand und betrachtete sie nochmals.
»Vermutlich hätte
ihn keine auch nur halbwegs gute Kunstakademie genommen«, sagte der Detective.
Er machte seine
Bürotür, die auf einen offenen Balkon führte, niemals zu. An diesem Balkon lagen
ein Dutzend solcher Büroräume, und der Kommissar legte grundsätzlich Wert darauf,
daß niemand seine Tür zumachte – außer in der Regenzeit, und auch dann nur, wenn
der Wind aus der falschen Richtung kam. Wenn alle Türen offenstanden, konnte niemand,
der verhört wurde, später behaupten, man habe ihn geschlagen. Außerdem mochte der
Kommissar die Geräusche, die die Sekretäre beim Abschreiben der Polizeiberichte
machten. Das mißtönende Geklapper der Schreibmaschinen suggerierte Fleiß und Ordnung.
Dabei wußte er, daß viele seiner Kollegen faul waren und ihre Sekretäre schlampig;
die getippten Berichte waren selten so ordentlich, wie sich das Tastengeklapper
anhörte. Vor ihm auf dem Schreibtisch lagen vier Berichte, die neu geschrieben werden
mußten – einer davon besonders dringend –, aber der Kommissar schob sie alle beiseite,
um die Fotos von den Bäuchen der ermordeten Huren auszubreiten. Die Elefantenzeichnungen
waren ihm so vertraut, [512] daß sie ihn beruhigten. Schließlich wollte er nicht, daß
der Doktor seinen Eifer spürte.
»Und hatte diese
Person, die Sie kannten, vielleicht einen geläufigen Namen, einen Namen wie etwa
Rahul?« fragte der Polizeibeamte. Es war eine schauspielerische Leistung, die Inspector
Dhar alle Ehre gemacht hätte.
»Rahul Rai«, sagte
Dr. Daruwalla. Er flüsterte beinahe, was das wachsende Vergnügen des Kommissars
jedoch keineswegs schmälerte.
»Und war dieser
Rahul Rai vielleicht in Goa… machte er vielleicht Urlaub am Meer… etwa zu der Zeit,
als der Deutsche und die Amerikanerin – diese Leichen, die Sie gesehen haben – ermordet
wurden?« fragte Patel. Der Doktor war auf seinem Stuhl zusammengesunken, als hätte
er Magenkrämpfe.
»In meinem Hotel,
im Bardez«, antwortete Farrokh. »Er hat mit seiner Tante dort gewohnt. Und die Sache
ist die, falls sich Rahul wirklich in Bombay aufhält, ist ihm der Duckworth Club
sicher wohlbekannt. Seine Tante war dort Mitglied!«
»War?« fragte der
Polizeibeamte.
»Sie ist tot«, sagte
Dr. Daruwalla. »Ich nehme doch an, daß Rahul, er oder sie, ihr Vermögen geerbt hat.«
Kommissar Patel
berührte den erhobenen Stoßzahn des Elefanten auf einem der Fotos. Dann schob er
sämtliche Aufnahmen zu einem ordentlichen Stapel zusammen. Er hatte immer gewußt,
daß es in Indien große Familienvermögen gab, aber die Verbindung zum Duckworth Club
war eine Überraschung. Er hatte sich zwanzig Jahre lang dadurch irreführen lassen,
daß Rahul kurze Zeit eine berüchtigte Erscheinung in den Transvestitenbordellen
an der Falkland und der Grant Road gewesen war. Das war wohl kaum der übliche Aufenthaltsort
für einen Duckworthianer.
»Ich weiß natürlich,
daß Sie meine Frau kennen«, sagte der Detective. »Ich muß Sie mit ihr zusammenbringen.
Sie kennt [513] Ihren Rahul ebenfalls, und vielleicht hilft es mir ja, wenn Sie gewissermaßen
ihre Erinnerungen vergleichen.«
»Wir könnten im
Club zusammen zu Mittag essen. Vielleicht weiß dort jemand mehr über Rahul«, schlug
Farrokh vor.
»Stellen Sie bloß
keine Fragen!« schrie ihn der Kommissar plötzlich an. Dr. Daruwalla war gekränkt,
auch wenn Patel sofort taktvoll einzulenken versuchte: »Wir wollen Rahul doch nicht
warnen, oder?« sagte er beschwichtigend, als spräche er zu einem Kind.
Der aus dem Hof
aufwirbelnde Staub hatte sich auf die Blätter der Paternosterbäume gelegt; das Balkongeländer
war ebenfalls mit Staub bedeckt. Im Büro des Kommissars bemühte sich der Deckenventilator
aus angelaufenem Messing, die Staubpartikel zur offenen
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