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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Schamhaar – in vielen Fällen die rasierte Schamzone – der
toten Frauen. Nicht einmal die vielen Jahre, die verstrichen waren, geschweige denn
die vielen entsetzlichen Morde, hatten Rahul über seinen ersten phantasievollen
Einfall hinaus zu inspirieren vermocht – nämlich daß der Nabel des Opfers stets
das zwinkernde Auge bildete. Die einzige Abwechslung bei den vielen Fotos bildeten
die [509]  unterschiedlichen Nabel der Frauen. Detective Patel merkte an, daß sowohl
die Zeichnungen als auch die Morde jenem abgedroschenen alten Ausdruck vom »eingleisigen
Denken« neue Bedeutung verliehen. Dr. Daruwalla, der zu entsetzt war, um überhaupt
etwas zu sagen, konnte nur zustimmend nicken.
    Er zeigte dem Kommissar
die beiden Zwei-Rupien-Scheine mit den Drohungen, aber Patel war keineswegs überrascht.
Er hatte mit weiteren Drohungen gerechnet, da er wußte, daß der Geldschein in Mr.
Lals Mund erst der Anfang gewesen war. Kein Mörder, den der Polizeibeamte je erlebt
hatte, gab sich damit zufrieden, potentielle Opfer nur einmal zu warnen. Mörder
warnten ihre Opfer entweder gar nicht oder wiederholt. Dieser Mörder jedoch hatte
zwanzig Jahre lang niemanden gewarnt. Erst jetzt, angefangen mit Mr. Lal, hatte
sich eine Art Vendetta gegen Inspector Dhar und Dr. Daruwalla herauskristallisiert.
Dem Kommissar schien es unwahrscheinlich, daß das einzige Motiv für diesen Wandel
bei Rahul ein alberner Film gewesen sein sollte. Etwas an der Verbindung Daruwalla–Dhar
mußte Rahuls Zorn erregt haben – seinen ganz persönlichen Zorn, und zwar schon länger.
Der Kommissar vermutete, daß Inspector Dhar und der Käfigmädchen-Killer Rahuls alten Haß lediglich weiter
geschürt hatte.
    »Sagen Sie mir…
ich bin einfach nur neugierig«, sagteDetective Patel zu Dr. Daruwalla, »kennen Sie
irgendwelche hijras …
ich meine, persönlich?« Doch sobald er merkte, daß der Doktor über die Frage nachdachte
– spontan konnte er sie offenbar nicht beantworten –, fügte der Detective hinzu:
»In ihrem Film haben Sie einen hijra zum Mörder gemacht. Wie sind Sie
bloß auf diese Idee gekommen? Ich meine, meiner Erfahrung nach sind hijras einigermaßen friedfertig. Die meisten
von ihnen sind recht nette Leute. Mag sein, daß die hijra -Prostituierten dreister sind als
die weiblichen Prostituierten, aber ich halte sie keineswegs für gefährlich. Aber
vielleicht kennen Sie ja einen, der weniger nett ist. Ich bin einfach nur neugierig.«
    [510]  »Na ja, irgend
jemand mußte ja der Mörder sein«, sagte Dr. Daruwalla abwehrend. »Es gab keinen
persönlichen Grund.«
    »Lassen Sie es mich
präziser formulieren«, sagte der Kommissar. Bei diesem Satz horchte Dr. Daruwalla
auf, weil er ihn Inspector Dhar oft in den Mund gelegt hatte. »Haben Sie irgendwann
mal eine Person mit Frauenbrüsten und dem Penis eines Jungen erlebt? Allen Berichten
zufolge war es ein ziemlich kleiner Penis«, fügte der Detective hinzu. »Ich spreche
nicht von einem hijra. Ich meine einen zenana, einen Transvestiten mit einem Penis, aber auch mit Brüsten.«
    In dem Augenblick
flackerte in Farrokhs Herzgegend ein Schmerz auf. Es war seine angeknackste Rippe,
die ihn an Rahul zu erinnern versuchte. Sie wollte ihm zurufen, daß Rahul die zweite
Mrs. Dogar war, aber der Doktor interpretierte den Schmerz irrtümlich als einen
Hinweis seines Herzens. Und sein Herz sagte: Rahul! Aber daß Rahul mit Mrs. Dogar
identisch war, ging Dr. Daruwalla nach wie vor nicht auf.
    »Ja, oder vielmehr…
ich meine, ich kannte mal einen Mann, der sich in eine Frau umwandeln lassen wollte«,
antwortete Farrokh. »Er hat offensichtlich Östrogene genommen, vielleicht hat er
sich sogar ein Implantat einsetzen lassen… jedenfalls hatte er eindeutig weibliche
Brüste. Aber ob er kastriert war oder sich einer anderen Operation unterzogen hat,
weiß ich nicht. Ich meine, ich bin davon ausgegangen, daß er einen Penis hatte,
weil er Interesse an einer vollständigen Operation bekundet hat, einer kompletten
Geschlechtsumwandlung.«
    »Und hat er diese
Operation machen lassen?« fragte der Kommissar.
    »Woher soll ich
das wissen?« entgegnete der Doktor. »Ich habe ihn, oder sie, seit zwanzig Jahren
nicht gesehen.«
    »Das wäre genau
die richtige Zeitspanne, nicht wahr?« fragte der Detective. Wieder spürte Farrokh
seine stechende Rippe, die er mit seinem aufgeregten Herzen verwechselte.
    [511]  »Er wollte nach
London fliegen, um sich dort operieren zu lassen«, erklärte

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