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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ehrfürchtige Begrüßung, die dem Scholastiker
zuteil wurde. In seinem ungebügelten Hemd aus der Fashion Street – dazu dem gehetzten,
zerkratzten Gesicht und dem Gefängnishaarschnitt – machte der neue Missionar einen
sehr ernsten ersten Eindruck.
    Aus unerklärlichen
Gründen blieb Dr. Daruwalla länger in [535]  der Missionsstation. Er hoffte auf eine
Gelegenheit, um Pater Julian vor dem Spinner Martin Mills zu warnen. Dabei war sich
der Doktor ganz und gar nicht im klaren, ob er sich derart massiv einmischen sollte.
Aber er kam gar nicht dazu, den Pater Rektor allein zu sprechen. Bei ihrer Ankunft
waren die Schüler gerade mit dem Mittagessen fertig. Pater Cecil und Frater Gabriel
– die zusammen nicht weniger als hundertfünfundvierzig Jahre auf dem Buckel hatten
– bestanden darauf, sich mit dem Koffer des Scholastikers abzuplagen, was Pater
Julian die Möglichkeit gab, mit Martin einen ersten Rundgang durch St. Ignatius
zu machen. Dr. Daruwalla trottete hinterher.
    Seit seiner Schulzeit
war Farrokh nur in größeren Abständen hier gewesen. Er betrachtete die Listen mit
den Abschlußjahrgängen, die in der Eingangshalle hingen, mit distanzierter Neugier:
Das sogenannte Indian Certificate of Secondary Education (abgekürzt I.C.S.E.) bestätigte
den Mittelschulabschluß. Bei den Absolventen des Jahres 1973 demonstrierte St. Ignatius
seine Verbindung zu Spanien dadurch, daß des Todes von Picasso gedacht wurde; das
war sicher Frater Gabriels Idee gewesen. Zwischen den Fotografien der Absolventen
dieses Jahrgangs befand sich ein Foto des Künstlers, als hätte Picasso das erforderliche
Examen ebenfalls bestanden. Darunter stand: PICASSO GEHT VON UNS . 1975 wurde des dreihundertsten
Jahrestages von Shivajis Krönung gedacht, im Jahr 1976 wurde auf die Olympischen
Spiele in Montreal Bezug genommen, 1977 betrauerte man den Tod von Charlie Chaplin
und von Elvis – auch ihre Konterfeis hingen zwischen denen der Absolventen. In diese
Jahrbuchsentimentalität mischte sich ein gewisser religiöser und nationalistischer
Eifer. Den Blickfang in der Eingangshalle bildete eine überlebensgroße Statue der
Jungfrau Maria, auf dem Kopf der Schlange stehend, die den bewußten Apfel im Maul
hielt, als könnte die Mutter Gottes auf diese Weise das Alte Testament umgehen oder
abändern. Und über dem Eingangsportal [536]  hingen nebeneinander zwei Porträts – eines
vom derzeitigen Papst, das andere vom jungen Nehru.
    Von wehmütigen Erinnerungen
gepackt, vor allem aber tief verwirrt von einer Kultur, die nie die seine geworden
war, spürte Farrokh, wie ihn seine stille Entschlossenheit verließ. Warum sollte
er den Pater Rektor vor Martin Mills warnen? Warum sollte er versuchen, einen der
anderen Patres zu warnen? Die ganze Umgebung hier kündete, vielleicht dank des beflügelnden
Einflusses des heiligen Ignatius von Loyola, vom Überleben – und auch von demütiger
Bußfertigkeit. Was den Erfolg der Jesuiten in Bombay und im restlichen Indien betraf,
ging Farrokh davon aus, daß die Bedeutung der Mütterverehrung in diesemLand den
Katholiken einen gewissen Vorteil verschafft hatte. Im Marienkult wurde schließlich
nur eine weitere Mutter verehrt, oder? Selbst in einer reinen Jungenschule nahm
die heilige Mutter Gottes eine Vorrangstellung unter den Statuen ein.
    Auf den Absolventenlisten
tauchten nur vereinzelt englische Namen auf, obwohl passables Englisch eine Voraussetzung
für die Aufnahme in die Schule war und von jedem St. Ignatius-Absolventen erwartet
wurde, daß er die Sprache fließend beherrschte. Es war die Unterrichtssprache während
der gesamten Schulzeit und die einzige Schriftsprache.
    In der Schülermensa
im Hof gab es ein Foto vom letzten Ausflug der Unterklassen: lauter Jungen in weißen
Hemden und marineblauen Krawatten; dazu trugen sie marineblaue kurze Hosen, Kniestrümpfe
und schwarze Schuhe. Unter dem Foto stand: UNSERE JUNIOREN, INKL. UNSERER KNIRPSE
UND WINZLINGE .
(Dr. Daruwalla mißbilligte Abkürzungen.)
    Im Erste-Hilfe-Zimmer
lag ein Junge mit Bauchweh zusammengerollt auf einer Pritsche, über der mit Reißzwecken
ein Foto des stereotypen Sonnenuntergangs an Haji Alis Grabdenkmal angebracht war.
Der Kommentar zu diesem Sonnenuntergang war so umfassend wie alle Kommentare von
Martin [537]  Mills. MAN LEBT NUR EINMAL, ABER WENN MAN RICHTIG LEBT, IST EINMAL GENUG .
    Als sie zum »Musiksaal«
kamen, ließen das verstimmte Klavier und der kratzige Gesang der unbegabten Musiklehrerin
den

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