Zirkuskind
ein bißchen wie Lee Marvin ausgesehen hat…
der Lee Marvin von Maharashtra«, sagte Farrokh.
»Lee Marvin! Doch
nicht Shirdi Sai Baba…«, protestierte der Missionar.
Um den zu erwartenden
Vortrag des Eiferers über die Parallelen zwischen dem Christentum und dem Sai-Baba-Kult
abzubiegen, begann der Doktor an dieser Stelle unvermittelt mit einer Schilderung
jener schrecklichen Zirkusnummer mit der Wippe, die für Vinods Luftangriff auf das
überraschte Publikum im Blue Nile Circus verantwortlich gewesen war. Er ließ keinen
Zweifel aufkommen, daß die keineswegs unschuldige Madhu und der elefantenfüßige
Ganesh mit solch unvorsichtig auftretenden Elefanten rechnen mußten. Aber auch sein
genau kalkulierter Pessimismus vermochte den Missionar nicht dazu zu bewegen, seine
Behauptung zu wiederholen, daß sich die Gefahren des Zirkus – jedes Zirkus – neben
den Härten, denen eine Prostituierte und ein Bettler in Bombay ausgesetzt waren,
recht unbedeutend [528] ausnahmen. So rasch, wie Martin Mills Gandhi hatte fallenlassen,
um sich Sai Baba zuzuwenden, vergaß er jetzt auch den Jesus von Maharashtra.
Denn plötzlich nahm
eine Reklametafel, an der sie vorbeifuhren, das Interesse des Missionars in Anspruch;
sie warb für eine Zahnpasta, die Close-Up hieß:
TWO IN ONE: ZAHNPASTA UND MUNDSPÜLE
»Sehen
Sie sich das an!« rief Martin Mills. Der verblüffte Taxifahrer konnte gerade noch
verhindern, daß ihn ein Colalaster, so groß und knallrot wie ein Feuerwehrauto,
von der Seite rammte. »Dabei ist der korrekte Umgang mit der Sprache so wichtig«,
erklärte der Scholastiker. »Was mir wirklich Sorgen bereitet, ist die Tatsache,
daß das Englisch dieser Kinder im Zirkus verkümmern wird. Vielleicht könnten wir
darauf bestehen, daß jemand sie dort unterrichtet!«
»Was soll es ihnen
im Zirkus denn nützen, wenn sie englisch sprechen?« fragte Farrokh. In seinen Augen
war es unsinnig zu glauben, Madhus Englischkenntnisse wären so umfassend, daß sie
»verkümmern« könnten. Allerdings war es ihm nach wie vor ein Rätsel, daß der Elefantenjunge
so gut Englisch sprach und offenbar noch mehr verstand; vielleicht hatte er schon
einmal Unterricht bekommen. Womöglich würde dieser Missionar noch vorschlagen, daß
Ganesh Madhu unterrichten sollte! Doch Martin Mills wartete nicht ab, bis der Doktor
seine These, daß Englischkenntnisse diesen Kindern nicht viel nützen würden – zumindest
nicht im Zirkus –, weiter ausführen konnte.
»Englisch sprechen
zu können nützt jedem«, behauptete der Englischlehrer. »Eines Tages wird Englisch
die Weltsprache sein.«
»Schlechtes Englisch
ist bereits die Weltsprache«, sagte [529] Dr. Daruwalla verzweifelt. Daß die Kinder
von einem Elefanten zerquetscht werden könnten, bereitete dem Missionar keine Sorgen,
aber daß sie gut Englisch sprachen war dem Trottel wichtig!
Als sie an Dr. Voras
Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe vorbeikamen, wurde Farrokh klar, daß sich
ihr altersschwacher Fahrer verirrt hatte. Der arme Tropf machte plötzlich kehrt
und wurde fast von einem entgegenkommenden olivgrünen Lieferwagen beiseite gefegt,
der der Spastikergesellschaft Indiens gehörte. Sekunden später – so kam es ihm jedenfalls
vor, obwohl mehr Zeit vergangen sein mußte – wurde dem Doktor klar, daß er die Orientierung
verloren hatte, denn sie fuhren am Gebäude der ›Times of India› vorbei, als Martin
Mills verkündete: »Wir könnten den Kindern ein Abonnement der ›Times of India‹ schenken
und sie ihnen in den Zirkus schicken lassen. Wir müßten natürlich darauf bestehen,
daß sie sich mindestens eine Stunde pro Tag damit beschäftigen.«
»Natürlich…«, sagte
Dr. Daruwalla. Er glaubte, vor Frustration gleich ohnmächtig zu werden, denn ihr
besorgter Fahrer hatte die Abzweigung verpaßt, die sie hätten nehmen sollen. Jetzt
fuhren sie die Sir J. J. Road entlang.
»Ich habe mir vorgenommen,
die Zeitung selbst zu lesen, jeden Tag«, fuhr der Missionar fort. »Wenn man im Ausland
ist, gibt es nichts Besseres als eine regionale Tageszeitung, um sich zu orientieren.«
Die Vorstellung, daß sich jemand mit Hilfe der ›Times of India‹ orientieren könnte,
gab Farrokh das Gefühl, daß ein Frontalzusammenstoß mit einem entgegenkommenden
Doppeldeckerbus vielleicht doch besser wäre als eine Fortsetzung des Gesprächs mit
dem Scholastiker. Sekunden später tauchten sie in die Straßen von Mazgaon ein –
St. Ignatius war jetzt ganz nahe –, und
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