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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Doktor zusammenzucken; er erkannte selbst das populäre traurige Lied »Swing
Low, Sweet Chariot« kaum wieder. Eigentlich war die Frau Englischlehrerin – eine
gewisse Miss Tanuja –, und Farrokh hörte zufällig, wie Pater Julian Martin Mills
erklärte, daß sich die altehrwürdige Methode, Schülern mit Hilfe von Liedtexten
eine Fremdsprache beizubringen, bei den kleineren Kindern nach wie vor großer Beliebtheit
erfreute. Daß nur einige wenige Kinder mehr als ein Murmeln zu Miss Tanujas Reibeisenstimme
beisteuerten, ließ Farrokh an der Behauptung des Pater Rektors zweifeln; vielleicht
lag das Problem nicht bei der Methode, sondern bei Miss Tanuja.
    Für Dr. Daruwalla
gehörte sie zu jenen indischen Frauen, die einfach in keine westliche Kleidung paßten;
an Miss Tanuja sah sie zudem noch besonders unvorteilhaft aus. Vielleicht konnten
die Kinder »Swing Low, Sweet Chariot« deshalb nicht singen, weil sie von Miss Tanujas
wilder Aufmachung abgelenkt wurden. Sogar Martin Mills wurde davon abgelenkt, und
das wollte etwas heißen. Farrokh zog den boshaften Schluß, daß Miss Tanuja Torschlußpanik
hatte und verzweifelt einen Ehemann suchte. Sie hatte ein Mondgesicht und einen
mittelbraunen, milchschokoladefarbenen Teint und trug eine auffallend eckige, an
den Seiten in aufwärtsgeschwungene Flügel auslaufende Brille, die mit kleinen, bunten
Steinchen besetzt war. Vielleicht glaubte Miss Tanuja, diese Brille bilde einen
reizvollen Kontrast zu ihrem weichen, runden Gesicht.
    Sie hatte die plumpe,
jugendliche Figur einer sinnlichen Oberschülerin, trug aber einen dunklen Rock,
der die Hüftenzu fest umspannte und eine recht unvorteilhafte Länge hatte. Miss
Tanuja war klein, und der Rocksaum schnitt ihre Waden in [538]  der Mitte ab, was bei
Dr. Daruwalla den Eindruck hinterließ, als seien ihre dicken Fesseln Handgelenke
und ihre pummeligen kleinen Füße Hände. Ihre Bluse schillerte irgendwie blaugrün,
wie mit Algen besprenkelt, die man aus einem Weiher gefischt hatte. Und obwohl das
erfreulichste Merkmal dieser Frau eine rundum kurvenreiche Figur war, hatte sie
sich einen Büstenhalter ausgesucht, der ihr einen schlechten Dienst erwies. Nachdem
wenigen zu urteilen, was Dr. Daruwalla über BHs wußte, tippte er auf eines dieser
altmodischen, spitz zulaufenden Dinger – einen dieser starr konstruierten Halter,
die eher dazu taugen, Frauen vor Fechtverletzungen zu schützen, als ihre natürlichen
Formen zu betonen. Und zwischen Miss Tanujas unerhört hochgeschobenen und spitz
zulaufenden Brüsten hing ein Kruzifix – als müßte der gekreuzigte Christus, zusätzlich
zu seinen sonstigen Qualen auch noch das Elend ertragen, auf dem großen, spitz bewehrten
Busen der Lehrerin herumzuhüpfen.
    »Miss Tanuja ist
schon seit vielen Jahren bei uns«, flüsterte Pater Julian.
    »Verstehe«, sagte
Dr. Daruwalla, während Martin Mills sie nur anstarrte.
    Dann kamen sie an
einem Klassenzimmer mit kleineren Kindern vorbei, die, mit den Köpfen auf den Schulbänken,
ein Schläfchen hielten. Nach Farrokhs Schätzung waren es entweder »Knirpse« oder
»Winzlinge«.
    »Spielen Sie Klavier?«
fragte der Pater Rektor den neuen Missionar.
    »Ich wollte es immer
lernen«, antwortete Martin. Vielleicht konnte der verrückte Kerl in den Pausen zwischen
seinen Versuchen, sich mit Hilfe der ›Times of India‹ zu orientieren, ja Klavier
üben, dachte Dr. Daruwalla.
    Um das Gespräch
von seinen mangelnden musikalischen Fähigkeiten abzulenken, erkundigte sich der
Scholastiker bei Pater Julian nach den Unmengen von Männern und Frauen, die [539]  man
überall in der Missionsstation die Böden kehren sah – sie säuberten auch die Toiletten –, und von denen der Missionar annahm, daß sie der Kaste der Unberührbaren angehörten.
    Der Pater Rektor
erklärte ihm, daß man sie als bhangis und maitranis bezeichnete,
doch damit gab sich Martin Mills nicht zufrieden. Er war ein Mann mit mehr Sendungsbewußtsein,
als Pater Julian vermutet hätte, und fragte den Pater Rektor deshalb ganz unumwunden:
»Gehen die Kinder dieser Leute denn auch in Ihre Schule?« Da plötzlich fand Dr.
Daruwalla ihn sympathisch.
    »Nun ja, also nein…
das wäre nicht angemessen«, sagte Pater Julian, und Farrokh war beeindruckt, wie
taktvoll Martin Mills den Pater Rektor unterbrach und elegant dazu überging, die
»Rettung« des verkrüppelten Betteljungen und der Kindprostituierten zu schildern.
Das war Martins Schritt-für-Schritt-Methode, und er

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