Zirkuskind
der vier, die inzwischen entlassen worden waren, hatte ein Handgelenk
im Gips. Zwei der Transvestiten-Prostituierten hatte man dazu überredet, keine Anzeige
gegen Dhars Zwerg zu erstatten – den »halben Leibwächter«, wie der die Untersuchung
leitende Beamte und viele andere Polizisten Vinod nannten. Aber der Bericht war
unbrauchbar, weil die Tatsache, daß Inspector Dhar angegriffen worden und Vinod
ihm zu Hilfe geeilt war, lediglich in einer Fußnote vermerkt war. Und überhaupt
wurde mit keinem Wort erwähnt, was Dhar in dieser Gegend zu suchen gehabt hatte.
Somit war der Bericht zu unvollständig, um eingereicht zu werden.
Der Kommissar nahm
sich vor, Dhar danach zu fragen, welcher Teufel ihn geritten hätte, daß er sich
an die hijras heranmachte. Wenn der Esel es mit
einer Prostituierten treiben wollte, wäre ein teures Callgirl doch sicher im Rahmen
seiner finanziellen Möglichkeiten gewesen – und weniger riskant. Der Vorfall paßte
so gar nicht zu der sonst so umsichtigen prominenten Persönlichkeit. Wäre es nicht
komisch, wenn Inspector Dhar ein Homosexueller wäre? dachte der Kommissar.
Immerhin bescherte
der Tag dem Kommissar wenigstens [533] eine amüsante Begebenheit. Der vierte Bericht
war von der Polizeiwache Tardeo ins Kriminalkommissariat gelangt. Mindestens sechs
Schlangen waren in der Nähe des Mahalaxmi-Tempels entflohen, aber Bisse waren keine
gemeldet worden – jedenfalls bisher nicht. Der diensthabende Polizeibeamte in Tardeo
hatte ein paar Fotos von der breiten Treppe gemacht, die zum Mahalaxmi-Tempel hinaufführte.
Am oberen Ende der Stufen, wo sich der Tempel erhob, gab es einen geräumigen Pavillon,
in dem die Gläubigen Kokosnüsse und Blumen als Opfergaben kaufen konnten; dort ließen
sie auch ihre Sandalen und Schuhe zurück. Doch auf den Fotos, die der Kommissar
vor sich liegen hatte, waren die Stufen zum Tempel mit Sandalen und Schuhen übersät,
was darauf hindeutete, daß eine in Panik geratene Menschenmenge soeben die Treppe
hinauf oder hinunter gestürmt war. Im Anschluß an Tumulte war der Boden immer mit
Sandalen und Schuhen übersät. Entweder waren die Leute einfach ohne ihr Schuhwerk
davongelaufen, oder andere Leute waren ihnen auf die Fersen getreten.
Auf den Stufen zum
Tempel herrschte normalerweise reges Treiben, doch auf den Fotos waren sie menschenleer;
die Blumenstände und Kokosnußläden waren ebenfalls verwaist. Nur Sandalen und Schuhe
lagen überall verstreut! Am Fuß der Treppe bemerkte Detective Patel die großen,
geflochtenen Körbe, in denen die Kobras aufbewahrt wurden; sie waren umgekippt und
wahrscheinlich leer. Die Schlangenbeschwörer waren zusammen mit allen anderen geflohen.
Aber wo waren die Kobras?
Es mußte eine recht
aufregende Szene gewesen sein, stellte sich der Kommissar vor. Die Gläubigen, die
schreiend davonrannten, während sich die Schlangen lautlos aus dem Staub machten.
Detective Patel ging davon aus, daß die meisten Kobras, die sich im Besitz von Schlangenbeschwörern
befanden, kein Gift mehr hatten; beißen konnten sie freilich trotzdem noch.
[534] Rätselhaft war
genau das, was auf den Fotos nicht zu sehen war. Worin hatte das Vergehen bestanden?
Hatte ein Schlangenbeschwörer seine Kobra nach einem anderen Schlangenbeschwörer
geworfen? War ein Tourist über einen Schlangenkorb gestolpert? Binnen einer Sekunde
waren die Schlangen frei, und im nächsten Augenblick rannten die Leute buchstäblich
ihren Schuhen davon. Aber worin bestand das Vergehen?
Kommissar Patel
schickte den Schlangenbericht zur Polizeiwache Tardeo zurück. Die entwischten Kobras
waren deren Problem. Sehr wahrscheinlich waren die Schlangen ungiftig, und da es
sich um Schlangen von Schlangenbeschwörern handelte, waren sie wenigstens zahm.
Der Detective wußte, daß ein halbes Dutzend Kobras in Mahalaxmi nicht halb so gefährlich
waren wie Rahul.
Die Missionsstation inspiriert Farrokh
Der Missionar,
den Farrokh bei den Jesuiten in St. Ignatius ablieferte, war erstaunlich zahm. Innerhalb
der Klostermauern legte Martin Mills den Gehorsam eines gut abgerichteten Hundes
an den Tag. Die früher so bewunderte »Bescheidenheit der Augen« wurde zu einem festen
Bestandteil seines Gesichts, so daß man ihn eher für einen Mönch gehalten hätte
als für einen Jesuiten. Der Doktor, der nicht wissen konnte, daß der Pater Rektor,
Pater Cecil und Frater Gabriel einen aufdringlichen Clown in einem Hawaiihemd erwartet
hatten, war enttäuscht über die geradezu
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