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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Stock fielen dem Doktor die grob ausgeführten, unvollendeten
Buntglasfenster auf – als wäre die Vorstellung von Gott an sich schon fragmenthaft
und unvollständig. In der Kapelle mit den Ikonen klappte der Doktor abrupt ein Gesangbuch
zu, nachdem er auf das Lied »Bringt mir Öl« gestoßen war. Dann las er das Einmerkzeichen,
das er dem Gesangbuch entnommen hatte. Es erinnerte an das bevorstehende Jubiläumsjahr
von St. Ignatius – »125 Jahre, in Liebe gewidmet der Aufgabe, die Jugend zu [542]  formen«.
Auch das Wort »weltbejahend« tauchte auf. Dr. Daruwalla hatte nicht die leiseste
Ahnung, was es bedeutete. Er wollte einen zweiten Blick in das Gesangbuch werfen,
nahm aber bereits am Titel dieses Kompendiums Anstoß. Es nannte sich »Gesangbuch
der charismatischen Erneuerung in Indien« – Farrokh hatte überhaupt nicht gewußt,
daß es eine charismatische Erneuerung gab! Und so tauschte er das Gesangbuch gegen
das Gebetbuch aus, kam aber nicht über die Anfangszeile des ersten Gebets hinaus:
»Erhalte uns, Herr, als Deinen Augapfel.«
    Dann entdeckte Dr.
Daruwalla die guten Vorsätze des Heiligen Vaters für das Jahr 1990. Die Empfehlung
für Januar lautete, der Dialog zwischen Katholiken und Anglikanern möge in dem Bemühen
um die Einheit der Christen fortgesetzt werden. Für Februar gab es Gebetsvorschläge
zugunsten all jener Katholiken, die in vielen Teilen der Welt diskriminiert oder
verfolgt wurden. Für März erging eine Mahnung an die Gemeindemitglieder, ein glaubwürdigeres
Zeugnis für die Unterstützung der Bedürftigen abzulegen und sich getreulicher an
die Armut der Evangelien zu halten. Dr. Daruwalla kam nicht über den März hinaus,
weil er an dem Ausdruck »Armut der Evangelien« hängenblieb. Er fühlte sich von zu
vielem umgeben, was er nicht verstand.
    Selbst mit Frater
Gabriels eifrig zusammengetragenen Ikonen konnte der Doktor wenig anfangen, obwohl
die Ikonensammlung von St. Ignatius in ganz Bombay berühmt war. Für Farrokhs Empfinden
waren die Darstellungen traurig und düster. Da gab es eine aus der ukrainischen
Schule stammende Anbetung der Heiligen Drei Könige aus dem sechzehnten Jahrhundert
und eine Enthauptung Johannes’ des Täufers aus dem fünfzehnten Jahrhundert, europäische
Schule. In der Rubrik »Dahinscheiden Unseres Herrn« gab es ein Abendmahl, eine Kreuzigung,
eine Kreuzabnahme, eine Grablegung, eine Auferstehung und eine Himmelfahrt; alle
Bilder stammten aus der Zeit zwischen dem vierzehnten und dem achtzehnten Jahrhundert [543]  und kamen abwechselnd aus der Schule von Novgorod, der byzantinischen Schule,
der Moskauer Schule… und so weiter. Dann hing da noch ein Gemälde, das »Dormitatio
Mariae« betitelt war, und das gab Dr. Daruwalla den Rest, weil er nicht wußte, was dormitatio hieß.
    Von den Heiligenbildern
spazierte der Doktor zum Büro des Pater Rektor weiter, an dessen geschlossener Tür
eine Art Steckbrett hing. Mit Hilfe kleiner Holzpflöcke, die in dafür vorgesehene
Löcher gesteckt wurden, konnte Pater Julian kundtun, wo er sich aufhielt und ob
er erreichbar war: »Gleich zurück« oder »Nicht stören«, »Freizeitraum« oder »Spät
zurück«, »Zum Abendessen zurück« oder »Außerhalb Bombays«. An diesem Punkt überlegte
der Doktor, daß er selbst eigentlich »Außerhalb Bombays« sein sollte, denn daß er
hier geboren war, bedeutete nicht, daß er hierhergehörte.
    Als die Glocke ertönte,
die das Ende des Unterrichts verkündete, merkte Farrokh, daß es bereits drei Uhr
nachmittags war. Er stand auf dem Balkon im zweiten Stock und sah den Schuljungen
nach, die über den staubigen Hof davonrannten. Autos und Busse brachten sie fort;
ihre Mütter oder ihre Ayas kamen, um sie abzuholen. Von seinem Beobachtungsposten
auf dem Balkon aus stellte Dr. Daruwalla fest, daß das hier die fettesten Kinder
waren, die er je in Indien gesehen hatte – ein liebloser Gedanke. Nicht einmal die
Hälfte aller Kinder in St. Ignatius waren halb so dick wie Farrokh. Trotzdem wußte
der Doktor jetzt, daß er sich dem Eifer des neuen Missionars ebensowenig in den
Weg stellen würde, wie er vom Balkon springen und sich vor den Augen dieser schuldlosen
Kinder umbringen würde.
    Außerdem wußte er,
daß keiner der maßgeblichen Leute in der Missionsstation Martin Mills irrtümlich
für Inspector Dhar halten würde. Die Jesuiten waren nicht gerade dafür berühmt,
daß sie das sogenannte Bollywood, die kitschige [544]  Hindi-Filmszene, besonders

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