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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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schwenkte den Pater Rektor praktisch
im Walzertakt durch die Schritte. Erst der Zirkus – statt Bettelei oder Bordell;
dann die Beherrschung der englischen Sprache – »die so viel Kultur vermittelt, daß
man ohne sie nicht auskommt« – und erst danach »die intelligente Bekehrung« oder,
wie Martin Mills es auch nannte, »das gebildete Leben in Christo«.
    Schüler aus einer
höheren Klasse, die gerade Pause hatten, lieferten sich im Hof eine wilde, geräuschlose
Dreckschlacht, und Dr. Daruwalla staunte, wie wenig sich die Jesuiten von diesem
kleinen Gewaltakt ablenken ließen. Sie redeten und lauschten weiterhin mit der Konzentration
von Löwen, die eine Beute umschleichen.
    »Aber Sie würden
sich die Bekehrung dieser Kinder doch nicht als Ihr Verdienst anrechnen, Martin?
Das heißt, falls sie irgendwann bekehrt werden«, sagte Pater Julian.
    »Na ja, nein… was
meinen Sie damit?« fragte Martin.
    »Ich meine nur,
daß ich nie weiß, ob ich jemanden bekehrt habe«, entgegnete der Pater Rektor. »Und wenn diese Kinder [540]  bekehrt
werden, wie können Sie davon ausgehen, daß das an Ihnen liegt? Seien Sie nicht zu
stolz. Denn wenn es geschieht, dann war es Gottes Werk. Nicht Ihres.«
    »Aber nein, natürlich
nicht!« sagte Martin Mills. »Wenn es geschieht, war es Gottes Werk!«
    Ist das »Gehorsam«?
fragte sich Dr. Daruwalla.
    Als Pater Julian
Martin Mills zu seinem Zimmerchen führte, das sich Dr. Daruwalla als eine Art Gefängniszelle
mit eingebauten Werkzeugen zur Kasteiung des Fleisches vorstellte, schlenderte der
Doktor allein weiter. Er wollte sich die mit dem Kopf auf der Schulbank schlafenden
Kinder noch einmal ansehen, weil ihm dieser Anblick besser gefallen hatte als alles,
was ihm aus seiner eigenen, schon so viele Jahre zurückliegenden Schulzeit in St.
Ignatius in Erinnerung geblieben war. Doch als er wieder in das Klassenzimmer der
Kleinen hineinschaute, warf ihm ein Lehrer, den er zuvor nicht gesehen hatte, einen
strengen Blick zu, als würde seine Anwesenheit unter der Tür die Kinder stören.
Und diesmal bemerkte der Doktor die auf Putz verlegten Leitungen für die Neonlampen,
die im Augenblick ausgeschaltet waren, und die offen verlegten Stromkabel für den
Deckenventilator, der lief. Über der Tafel hing – wie eine Marionette an verworrenen,
bewegungslosen Fäden – eine weitere Marienstatue. Aus Farrokhs kanadischer Perspektive
war diese Mutter Gottes mit Reif oder einem Hauch Schnee bedeckt; dabei hatte sich
nur der Kreidestaub, der von der Tafel aufgeflogen war, auf die Figur gelegt.
    Aus Spaß las Dr.
Daruwalla auf seinem weiteren Rundgang sämtliche gedruckten Notizen und Ankündigungen,
die er entdecken konnte. Da rief die Gruppe für soziale Fürsorge dazu auf, »weniger
glücklichen Brüdern und Schwestern beizustehen«. Gebete für die armen Seelen im
Fegefeuer wurden angeboten. Ein Standbild von Christus mit dem kranken Kind und
der Minimax-Feuerlöscher daneben bildeten einen reizvollen Kontrast. Neben [541]  einer
kurzen, gedruckten Liste mit Verhaltensmaßregeln für den Brandfall, formuliert im
üblichen Brandschutzjargon, verkündete eine kindliche Handschrift auf einem Blatt
aus einem linierten Notizblock: »Dank sei dem Jesuskind und Unserer Lieben Frau
von der Immerwährenden Hilfe«. Farrokh empfand das Vorhandensein des Feuerlöschers
als tröstlicher. Die riesige, aus Ziegeln erbaute Missionsstation war im Jahr 1865
errichtet worden, die Neonleuchten, die Deckenventilatoren und das ausgedehnte Netz
planlos verlegter Stromleitungen waren später hinzugekommen. Der Doktor hielt es
für durchaus möglich, daß infolge eines Kurzschlusses ein Feuer ausbrach.
    Farrokh versuchte,
sich mit all den Veranstaltungen vertraut zu machen, an denen ein guter Christ teilnehmen
konnte. Angekündigt waren ein Treffen mit liturgischen Lesungen und ein Treffen
der »Angehörigen des Kreuzes« mit dem Ziel, »das politische Bewußtsein der Gemeindemitglieder
zu fördern«. Das für die nächste Sitzung des »Kreises für katholische Erwachsenenbildung«
vorgeschlagene Gesprächsthema lautete: »Christen von heute in einer Welt nichtchristlicher
Religionen.« In diesem Monat wurde das »Lebendige-Hoffnung-Komitee« von Dr. Yusuf
Merchant geleitet. Dr. Daruwalla fragte sich, was »geleitet« bedeuten mochte. Dann
gab es eine »Kennenlernparty« für die »Altardienst-Brigade«, hinter der Farrokh
eine verbissene Veranstaltung vermutete.
    Unter dem Torbogen
zum Balkon im zweiten

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