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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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der Doktor gab dem Fahrer, ohne ersichtlichen
Grund, Anweisung, einen kleinen Umweg durch den Slum an der Sophia Zuber Road zu
machen.
    »Ein Teil dieses
Slums war früher mal eine Filmkulisse«, [530]  erklärte Dr. Daruwalla Martin Mills.
»Und in diesem Slum ist Ihre Mutter ohnmächtig geworden, als eine Kuh sie angeniest
und dann abgeleckt hat. Sie war damals mit Ihnen schwanger… ich vermute, Sie kennen
die Geschichte…«
    »Bitte halten Sie
an!« rief der Missionar.
    Sobald der Fahrer
auf die Bremse trat, allerdings noch bevor das Taxi ganz zum Stehen kam, öffnete
Martin Mills die hintere Tür und erbrach sich auf die unter ihm vorbeiziehende Straße.
Da in einem Slum nichts unbemerkt bleibt, lenkte dieser Vorfall die Aufmerksamkeit
mehrerer Slumbewohner auf sich, die neben dem bremsenden Auto herzulaufen begannen.
Der verängstigte Fahrer gab Gas, um ihnen davonzufahren.
    »Nachdem Ihre Mutter
ohnmächtig geworden war, gab es einen Tumult«, fuhr Farrokh fort. »Offenbar herrschte
große Verwirrung bezüglich der Frage, wer wen abgeleckt hatte… Ihre Mutter die Kuh
oder umgekehrt.«
    »Hören Sie auf,
ich bitte Sie. Bitte sprechen Sie nicht von meiner Mutter«, sagte Martin.
    »Tut mir leid«,
sagte Dr. Daruwalla fast schadenfroh. Endlich hatte er ein Thema gefunden, mit dem
er den Scholastiker zum Schweigen bringen konnte.
    Ein halbes Dutzend Kobras
    Für Kommissar
Patel sollte der Tag zwar nicht weniger lang werden als für Dr. Daruwalla, doch
zunächst gestaltete er sich weniger verwirrend. Der Kommissar überarbeitete rasch
den ersten zusammengeschusterten Bericht, der auf ihn wartete – ein Todesfall im
Suba Guest House, bei dem der Verdacht auf Mord bestand. Wie sich herausstellte,
war es ein Selbstmord. Der Bericht mußte neu geschrieben werden, da der diensthabende
Beamte die paar Zeilen des jungen Selbstmörders fälschlicherweise als einen [531]  vom
Mörder zurückgelassenen Hinweis aufgefaßt hatte. Später identifizierte die Mutter
des Opfers die Handschrift ihres Sohnes. Der Kommissar konnte den Fehler des diensthabenden
Beamten nachvollziehen, da es sich eigentlich nicht um einen richtigen Abschiedsbrief
handelte.
    Hatte Sex mit einer Frau, die nach Fleisch roch.
Nicht sehr rein.
    Bei dem zweiten
Bericht, der umgeschrieben werden mußte, hatte der Kommissar weniger Verständnis
für den Unterinspektor, der in die Alexandria Girls’ English Institution gerufen
worden war. Dort hatte man auf der Toilette eine Schülerin gefunden, die vermutlich
vergewaltigt und dann ermordet worden war. Doch als der Unterinspektor in der Schule
eintraf, stellte er fest, daß das Mädchen quicklebendig war. Sie hatte sich vollständig
von ihrer Ermordung erholt und wies die Unterstellung, sie sei vergewaltigt worden,
empört von sich. Wie sich herausstellte, hatte sie zum erstenmal ihre Periode bekommen
und sich in die Toilette zurückgezogen, um nachzusehen, was da mit ihr vorging.
Beim Anblick ihres eigenen Blutes war sie dann ohnmächtig geworden. Eine hysterische
Lehrerin hatte sie gefunden und das Blut irrtümlich als Beweis für die Vergewaltigung
der Jungfrau angesehen. Außerdem hatte sie angenommen, daß das Mädchen tot war.
    Der Grund, warum
der Bericht neu geschrieben werden mußte, war folgender: Der Unterinspektor hatte
es nicht über sich gebracht zu erwähnen, daß das arme Mädchen zum erstenmal seine
»Periode« bekommen hatte, weil er dieses Wort aus moralischen Gründen unmöglich
verwenden konnte. Sein Gefühl für Moral, sagte er, verbiete es ihm, ein Wort wie
»Periode« oder »Menstruation« hinzuschreiben, das er (so fügte er hinzu), ebenfalls
aus moralischen Gründen, noch nicht einmal aussprechen [532]  könne. Und so wurde die
irrtümlich gemeldete Vergewaltigung samt Mord in dem schriftlichen Bericht als »ein
Fall erster weiblicher Blutung« bezeichnet. Detective Patel mußte zugeben, daß seine
zwanzig Jahre mit Nancy ihm in bezug auf die gequälte Moral vieler seiner Kollegen
die Augen geöffnet hatten; folglich versagte er sich ein allzu harsches Urteil über
den Unterinspektor.
    Der dritte Bericht,
der überarbeitet werden mußte, hatte mit Dhar zu tun und betraf einen Vorfall, der
überhaupt nicht als Vergehen gemeldet worden war. In den frühen Morgenstunden hatte
es in der Falkland Road einen recht verblüffenden Tumult gegeben. Dhars Leibzwerg
– dieser dreiste Schläger! – hatte ein halbes Dutzend hijras verprügelt. Zwei lagen noch im Krankenhaus,
und einer

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