Zirkuskind
er so dachte wie alle anderen, war geradezu beschämend. Mag sein, daß ihm beide
Länder fremd waren, aber er war auch ein Snob. Und hier, im Angesicht des Todes,
empfand er diesen offensichtlichen Mangel an Originalität als demütigend – sprich,
er entdeckte, daß er auf die Situation genauso reagierte wie ein strohdummer, unsympathischer
Gärtner.
Der Doktor schämte
sich so sehr, daß er seine Aufmerksamkeit vorübergehend Mr. Lals tiefbetrübtem Golfpartner,
Mr. Bannerjee, zuwandte, der sich der Leiche seines Freundes nur so weit näherte,
daß er die Fahne am neunten Loch, die schlaff an ihrer schlanken Stange hing, hätte
berühren können.
Da sagte Dhar plötzlich,
eher sachlich als überrascht: »An dem einen Ohr ist ziemlich viel Blut.«
»Vermutlich haben
die Geier schon einige Zeit an ihm herumgepickt«, entgegnete Dr. Daruwalla. Mehr
wagte er nicht zu sagen – schließlich war er Orthopäde und kein ärztlicher Leichenbeschauer.
»Aber es sieht nicht
danach aus«, sagte Inspector Dhar.
»Ach, hör doch auf,
den Polizisten zu spielen!« entgegnete Farrokh ungeduldig.
Dhar warf Dr. Daruwalla
einen gestrengen, vorwurfsvollen Blick zu, völlig zu Recht, wie der Doktor fand.
Verlegen [65] scharrte er mit den Füßen in den hellen Blütenblättern herum, von denen
sich mehrere zwischen seinen Zehen verfangen hatten. Er war peinlich berührt von
der erkennbaren Grausamkeit im Gesicht des sensationslüsternen Obergärtners; und
er schämte sich, daß er sich nicht um die Lebenden kümmerte – Mr. Bannerjee litt
sichtlich still vor sich hin –, denn für Mr. Lal konnte er ohnehin nichts mehr tun.
Der arme Mr. Bannerjee mußte denken, daß der Tote Dr. Daruwalla völlig gleichgültig
war. Dabei hatte Farrokh nur Angst vor der beunruhigenden Neuigkeit, die seinem
lieben jungen Freund mitzuteilen er immer noch nicht den Mut hatte.
Ach, wie ungerecht
ist es doch, daß die Übermittlung derlei unliebsamer Nachrichten ausgerechnet mir
aufgebürdet wird! dachte Dr. Daruwalla – und vergaß im Moment völlig die größere
Ungerechtigkeit, die Dhar widerfahren war. Hatte der arme Schauspieler denn nicht
schon genug zu kämpfen gehabt? Und trotzdem war es ihm gelungen, sich seine geistige
Gesundheit zu bewahren, was nur durch radikales Abschirmen seiner Privatsphäre erreicht
werden konnte. Und Dr. Daruwallas Privatsphäre hatte er ebenfalls respektiert, denn
schließlich wußte Dhar, daß der Doktor die Drehbücher zu sämtlichen Inspector-Dhar-Filmen
geschrieben hatte – er wußte, daß Farrokh eben jene Rolle geschaffen hatte, die
Dhar jetzt nicht mehr los wurde.
Dabei sollte es
ein Geschenk sein, dachte Dr. Daruwalla rückblickend. Er hatte den jungen Mann ins
Herz geschlossen wie einen Sohn – er hatte die Rolle eigens für ihn geschrieben.
Um jetzt dem vorwurfsvollen Blick auszuweichen, den ihm Dhar zuwarf, kniete sich
Farrokh hin und zupfte die Bougainvilleenblätter zwischen seinen Zehen heraus.
Oje, mein lieber
Junge, in was habe ich dich da hineingeritten? dachte Dr. Daruwalla. Dhar ging auf
die Vierzig zu, doch für Farrokh war er noch immer ein Junge. Der Doktor hatte nicht
nur die Figur des umstrittenen Kriminalbeamten [66] erfunden, hatte nicht nur die
Filme kreiert, die ganz Maharashtra in Rage brachten; er hatte sich auch die absurde
Autobiographie ausgedacht, die der berühmte Schauspieler der Öffentlichkeit als
seine Lebensgeschichte anzudrehen versuchte. Es war durchaus verständlich, daß die
Leute sie ihm nicht abkauften. Allerdings wußte Farrokh, daß die Öffentlichkeit
Dhar auch seine wahre Geschichte nicht abgekauft hätte.
In Inspector Dhars
fiktiver Autobiographie trat eine Vorliebe für heilsame Schocks und Gefühlsregungen
zutage, die an seine Filme erinnerte. Er behauptete, als uneheliches Kind geboren
zu sein. Seine Mutter war angeblich Amerikanerin – ein ehemaliger Hollywood-Filmstar –, und sein Vater war ein echter Polizeiinspektor in Bombay, der sich längst zur
Ruhe gesetzt hatte. Vor vierzig Jahren (Inspector Dhar war neununddreißig) hatte
die Hollywood-Mutter in Bombay einen Film gedreht, und der Polizeiinspektor, der
für die Sicherheit der Stars verantwortlich gewesen war, hatte sich in sie verliebt.
Ihre Rendezvous fanden im Hotel Taj Mahal statt. Als sie erfuhr, daß sie schwanger
war, traf sie ein Abkommen mit dem Polizeiinspektor.
Zu der Zeit, als
Dhar geboren wurde, war der lebenslange Unterhalt für einen indischen Polizeiinspektor
eine
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