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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Dhar
ein guter Synchronsänger war, zeigte er keinerlei Begeisterung für diese vielgelästerte
Kunst. Ein Kritiker hatte ihn »Lasche Lippe« tituliert. Ein anderer Kritiker beklagte,
daß sich Inspector Dhar durch nichts in Schwung bringen ließ, daß er sich für nichts
und niemanden begeistern konnte. Als Schauspieler fand er bei der großen Masse Anklang
– möglicherweise weil er ständig deprimiert wirkte, als wäre die Gemeinheit für
ihn ein Magnet und der Triumph, den er am Ende über das Böse errang, sein ewiger
Fluch. Deshalb war auch jedes Opfer, das Inspector Dhar zu retten oder zu rächen
versuchte, mit einer unbestimmten Wehmut geschlagen; und die Strafe, der Dhar den
jeweiligen Bösewicht zuführte, war stets drastisch.
    Sex wurde weitgehend
satirisch behandelt. Statt Bettszenen wurden alte Wochenschau-Ausschnitte von schaukelnden
Zügen gezeigt, und den sexuellen Höhepunkt symbolisierten Wellen, die sich lustlos
am Strand brachen. Nacktheit war in Indien von der Zensur verboten und wurde deshalb
durch Nässe ersetzt. Es gab viel Gestreichel (in vollständig bekleidetem [72]  Zustand)
im Regen, als würde Inspector Dhar nur in der Regenzeit Verbrechen aufklären. Ab
und zu erhaschte man einen Blick auf eine Brustwarze oder konnte sie sich unter
einem durchweichten Sari zumindest vorstellen; das war eher prickelnd als erotisch.
    Gesellschaftskritik
und politische Aussagen wurden gleichermaßen in den Hintergrund gedrängt, sofern
sie nicht ganz fehlten. (Dr. Daruwallas Antenne für beides war in Toronto ebenso
unterentwickelt wie in Bombay.) Abgesehen von dem Allgemeinplatz, daß die Polizei
bis auf die Knochen korrupt war, da der ganze Apparat auf Bestechung beruhte, waren
diese Filme unpolitisch. Szenen mit gewaltsamen, aber rührseligen Todesfällen und
anschließender tränenreicher Trauer waren wichtiger als irgendwelche Botschaften,
die an vaterländische Gefühle oder ein soziales Gewissen appelliert hätten.
    Die Figur des Inspector
Dhar war von brutaler Rachsucht erfüllt. Allerdings war er absolut unbestechlich
– außer in sexueller Hinsicht. Frauen waren recht pauschal entweder nur gut oder
nur schlecht; doch Dhar gestattete sich bei beiden Kategorien – sprich: bei allen
– die größten Freiheiten. Na ja, bei fast allen. Er ließ sich grundsätzlich mit
keiner Frau aus der westlichen Welt ein. Dabei gab es in jedem Inspector-Dhar-Film
mindestens eine auffallend weiße Frau, die nach einem sexuellen Abenteuer mit dem
Inspector gierte. Daß er sie regelmäßig auf das grausamste verschmähte, war typisch
für ihn, sein Markenzeichen sozusagen und der Grund, weshalb ihn die indischen Frauen
und jungen Mädchen so anbeteten. Ob dieser Charakterzug seine Gefühle für seine
Mutter widerspiegelte oder auf fiktiver Ebene die von ihm bekundete Absicht unterstrich,
nur indische Babies zu zeugen – wer wollte das wissen? Wer wußte überhaupt irgend
etwas über Inspector Dhar? – von allen Männern gehaßt, von allen Frauen geliebt
(die freilich behaupteten, ihn zu hassen).
    [73]  Auch seine indischen
Freundinnen waren alle – fast übereifrig – darum bemüht, seine Privatsphäre abzuschirmen.
Sie sagten zum Beispiel: »Er ist ganz anders als in seinen Filmen.« (Nie wurden
irgendwelche Beispiele angeführt.) Oder: »Er ist sehr altmodisch, ein echter Gentleman.«
(Niemand verlangte je Beispiele.) Oder: »In Wirklichkeit ist er sehr bescheiden
– und sehr zurückhaltend.«
    Jedermann konnte
sich gut vorstellen, daß er »zurückhaltend« war. Es wurde sogar gemunkelt, daß er
keine Zeile von sich gab, die nicht im Drehbuch stand – nur: Wie paßte das zu dem
anderen Gerücht, er spreche akzentfreies Englisch?
    Niemand glaubte
irgend etwas, oder vielmehr wurde alles geglaubt, was man hörte. Daß er zwei Frauen
hatte, eine davon in Europa. Daß er ein Dutzend Kinder hatte, alle unehelich, von
denen er keines anerkannte. Daß er in Los Angeles lebte, im Haus seiner bösen Mutter!
    All diese Gerüchte
und das anhaltende, krasse Mißverhältnis zwischen der extremen Beliebtheit seiner
Filme und der extremen Feindseligkeit gegenüber seiner Person trugen dazu bei, daß
Dhar eine unergründliche Gestalt blieb. Sein Hohnlächeln ließ ein erhebliches Maß
an Sarkasmus erkennen; aber die enorme Selbstbeherrschung machte ihm so leicht kein
anderer stämmiger Mann in mittleren Jahren nach.
    Dhar unterstützte
nur eine wohltätige Einrichtung. Er warb beim Publikum mit vollem Einsatz und

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