Zirkuskind
einen Hang zum Sarkasmus hatte.
»Am Telefon war
es mir nicht möglich, den Zustand des Clowns zu ermitteln«, entgegnete sie. »Die
Schilderung war ziemlich hysterisch. Soviel ich mitbekommen habe, wurde er von einem
Elefanten getreten oder aus einer Kanone geschossen oder beides. Und jetzt liegt
der Zwerg im Sterben und behauptet, daß Sie sein Arzt sind.«
Und so begab sich
Dr. Daruwalla wieder in den Zirkus auf dem Cross Maidan. Auf dem Rückweg zu der
höchst mangelhaften Vorstellung des Great Blue Nile spürte er die ganze Zeit noch
dieses Kribbeln in der Nase.
Seit fünfzehn Jahren
genügte die Erinnerung an die Frau des Zwergs, um Farrokhs Nase zu aktivieren. Und
jetzt, nachdem Mr. Lal ohne Netz abgestürzt war (denn der arme Mann auf dem Golfplatz
war in der Tat tot), erinnerte ihn selbst dieser augenfällige Tod daran, daß Deepa
sowohl ihren Sturz als auch den unerfreulichen und schmerzhaften Zusammenprall mit
dem ungeschickten Doktor überlebt hatte.
Der berühmte Zwilling
Bei Inspector
Dhars Erscheinen waren die Geier zwar aufgeflogen, aber nicht verschwunden. Dr.
Daruwalla wußte, daß die [58] Aasfresser noch immer über ihnen schwebten, weil ihr
Fäulnisgeruch in der Luft hing und ihre Schatten über die Bougainvilleen beim neunten
Green dahinglitten, wo Dhar – ein bloßer Leinwand-Detective – neben dem armen Mr.
Lal kniete.
»Rühr die Leiche
nicht an!« sagte Dr. Daruwalla.
»Ich weiß«, antwortete
der altgediente Schauspieler kühl.
O je, er ist schlecht
gelaunt, dachte Farrokh. Da wäre es unklug, ihm jetzt die beunruhigende Nachricht
mitzuteilen. Der Doktor bezweifelte, daß Dhars Laune jemals so gut sein würde, daß
er großmütig auf eine solche Neuigkeit reagieren würde – und wer hätte ihm das verübeln
können? Das Ganze war im Grunde zutiefst ungerecht, denn Dhar war ein eineiiger
Zwilling, der bei der Geburt von seinem Bruder getrennt worden war. Dhar hatte man
die Geschichte von seiner Geburt erzählt, aber nicht seinem Zwillingsbruder. Der
wußte nicht einmal, daß er ein Zwilling war. Und jetzt kam Dhars Zwillingsbruder
nach Bombay.
Dr. Daruwalla war
immer überzeugt gewesen, daß aus einer solchen Täuschung nichts Gutes entstehen
konnte. Obwohl Dhar die von seiner Mutter willkürlich und bewußt herbeigeführte
Situation akzeptiert hatte, bezahlte er dafür mit einer gewissen Reserviertheit.
Er war ein Mann, der, soweit Farrokh das beurteilen konnte, seine Regungen im Zaum
hielt und jedem Gefühl der Zuneigung, das andere ihm entgegenbrachten, energisch
widerstand. Wer hätte ihm das verdenken können? dachte der Doktor. Dhar hatte die
Existenz einer Mutter, eines Vaters und eines Zwillingsbruders akzeptiert, die er
nie gesehen hatte. Er hatte sich an das fade Sprichwort gehalten, das noch immer
gern zitiert wird: Schlafende Hunde soll man nicht wecken. Aber diese extrem beunruhigende
Nachricht fiel wohl eher in den Bereich einer anderen abgegriffenen Redensart, die
ebenfalls gern zitiert wird – sie würde das Faß zum Überlaufen bringen.
Dr. Daruwalla fand,
daß Dhars Mutter einfach zu [59] selbstsüchtig war, um Mutter zu sein. Und vierzig
Jahre nach dem »Unfall« mit ihrer Schwangerschaft demonstrierte diese Frau erneut
ihre Selbstsucht. Daß sie willkürlich beschlossen hatte, einen Zwilling zu behalten und den anderen wegzugeben, war an sich schon ein
starkes Stück. Daß sie sich entschlossen hatte, sich vor der möglicherweise harschen
Reaktion ihres Mannes zu schützen, indem sie ihm die Tatsache verheimlichte, daß
sie Zwillinge bekommen hatte, war schon eine gesteigerte, ja geradezu monströse
Form von Selbstsucht. Und daß sie den Zwilling, den sie behielt, so abschirmte,
daß er nie von seinem Bruder erfuhr, war nicht nur selbstsüchtig, sondern dem im
Stich gelassenen Zwilling gegenüber – dem Zwilling, der alles wußte – ausgesprochen
gemein.
Na ja, dachte der
Doktor, Dhar wußte alles, außer daß sein Zwillingsbruder nach Bombay kommen würde
und seine Mutter Dr. Daruwalla angefleht hatte, dafür zu sorgen, daß sich die beiden
nicht begegneten!
Unter diesen Umständen
war Dr. Daruwalla vorübergehend dankbar für die Ablenkung, die das Herzversagen
des alten Mr. Lal darstellte. Außer beim Essen war Farrokh jede Verzögerung willkommen
wie ein unverhofftes, gütiges Geschick. Die Auspuffgase, die das Gefährt des Obergärtners
ausspuckte, bliesen eine Wolke Blütenblätter von den verunstalteten Bougainvilleen
herüber auf
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