Zirkuskind
Dr. Daruwallas Füße. Überrascht blickte der Doktor auf seine hellbraunen
Zehen in den dunkelbraunen Sandalen, die fast ganz unter den pinkfarbenen Blütenblättern
begraben waren.
In dem Augenblick
schlich der Obergärtner, ohne seinen Motor abzustellen, zum neunten Green hinüber
und stellte sich einfältig lächelnd neben Dr. Daruwalla. Der mali war sichtlich weniger beunruhigt
über den Tod des armen Mr. Lal als aufgeregt darüber, daß er Inspector Dhar in Aktion
erlebte. Er deutete mit dem Kopf auf die Szene in den Bougainvilleen und [60] flüsterte
Farrokh zu: »Das sieht genau aus wie im Film!« Diese Beobachtung führte Dr. Daruwalla
rasch zu dem anstehenden Problem zurück, nämlich daß es unmöglich war, vor Dhars
Zwilling die Existenz seines berühmten Bruders geheimzuhalten, der selbst in einer
Stadt voller Filmstars wie Bombay ohne Zweifel der Star war, den man am leichtesten
erkannte.
Selbst wenn der
berühmte Schauspieler bereit wäre, sich versteckt zu halten, würde sein eineiiger
Zwilling auf Schritt und Tritt irrtümlich für Inspector Dhar gehalten werden. Dr.
Daruwalla bewunderte die geistige Zähigkeit der Jesuiten, aber der Zwillingsbruder
– er war das, was die Jesuiten einen Scholastiker nennen (der sich mit humanistischen
und philosophischen Studien auf das Priesteramt vorbereitet) – hätte mehr als geistig
zäh sein müssen, um eine ständige Verwechslung dieser Größenordnung auszuhalten.
Und nach dem, was man Farrokh über Dhars Zwillingsbruder erzählt hatte, gehörte
Selbstvertrauen nicht zu dessen herausragenden Eigenschaften. Wer befindet sich
schließlich mit fast vierzig noch »in der Ausbildung« zum Priester? fragte sich
der Doktor. In Anbetracht der Gefühle, die man in Bombay für Dhar hegte, könnte
sein jesuitischer Zwilling womöglich umgebracht werden! Trotz seines Übertritts
zum Christentum bezweifelte Dr. Daruwalla, daß der vermutlich naive amerikanische
Missionar die feindseligen Gefühle Bombays gegenüber Inspector Dhar überleben –
geschweige denn begreifen – würde.
Zum Beispiel war
es in Bombay üblich, daß sämtliche Werbeplakate für sämtliche Inspector-Dhar-Filme
verunstaltet wurden. Nur auf den höher angebrachten Reklametafeln – die überall
in der Stadt zu sehen waren – blieb es dem überlebensgroßen Abbild von Inspector
Dhars grausamem, attraktivem Gesicht erspart, von der Straße aus mit Unmengen Dreck
beworfen zu werden. Doch selbst oberhalb menschlicher Reichweite entging das vertraute
Gesicht des verhaßten Antihelden nicht der [61] kreativen Beschmutzung durch Bombays
ausdrucksstärkste Vögel. Die Krähen und die gabelschwänzigen Falken wurden von den
dunklen, stechenden Augen und dem höhnischen Lächeln des berühmten Schauspielers
offenbar angezogen wie von einer Zielscheibe. Überall in der Stadt war Dhars Plakatgesicht
mit Vogeldreck bespritzt. Doch selbst seine zahlreichen Kritiker mußten zugeben,
daß Inspector Dhars Hohnlächeln eine gewisse Perfektion erreicht hatte. Es ließ
einen an einen Liebhaber denken, der die Geliebte verlassen hat und deren Elend
gründlich genießt. Ganz Bombay spürte den Stich dieses Lächelns gleichsam am eigenen
Leib. Der Rest der Welt, sogar fast der ganze Rest Indiens, hatte nicht unter diesem
höhnischen Lächeln zu leiden, mit dem Inspector Dhar unablässig auf Bombay herabblickte.
Der Kassenerfolg seiner Filme beschränkte sich unerklärlicherweise auf Maharashtra
und stand in krassem Gegensatz zu der Tatsache, daß Dhar ausnahmslos gehaßt wurde.
Nicht nur die Filmfigur, sondern auch der Schauspieler, der sie verkörperte, gehörte
zu jenen populären Stars, die die Öffentlichkeit voller Hingabe verabscheute. Und
dem Schauspieler, der die Verantwortung für die Rolle übernommen hatte, schien die
leidenschaftliche Feindseligkeit, die er provozierte, so gut zu gefallen, daß er
keine anderen Rollen annahm und nicht einmal einen anderen Namen führte – er war
Inspector Dhar geworden. Dieser Name stand in seinem Paß.
Er stand in seinem indischen Paß, der eine Fälschung war. Indien
gestattet keine doppelte Staatsbürgerschaft. Dr. Daruwalla wußte, daß Dhar einen
Schweizer Paß besaß, einen echten; er war Schweizer Bürger. In Wirklichkeit hatte
der schlaue Schauspieler auch ein Schweizer Leben, für das er Farrokh ewig dankbar
sein würde. Der Erfolg der Inspector-Dhar-Filme basierte zumindest teilweise darauf,
daß Dhar sein Privatleben sorgfältig abgeschirmt und
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