Zirkuskind
schätzten.
Junge Frauen in triefend nassen Saris waren nicht ihre Spezialität. Superhelden
und teuflische Schurken, Gewalt und Vulgarität, Geschmacklosigkeit und Geilheit
– und der gelegentlich herabsteigende Gott, der sich in mitleiderregende menschliche
Angelegenheiten einmischte… in St. Ignatius war Inspector Dhar nicht bekannt. Allerdings
war es durchaus möglich, daß der eine oder andere Schüler Martin Mills’ Ähnlichkeit
mit Dhar bemerken würde, denn bei den Schuljungen war Inspector Dhar sehr beliebt.
Dr. Daruwalla verweilte
noch immer in St. Ignatius. Obwohl er allerhand zu tun hatte, brachte er es einfach
nicht fertig zu gehen. Er wußte nicht, daß er bereits dabei war zu schreiben; es hatte noch nie so angefangen.
Als die Kinder nach Hause gegangen waren, begab er sich in die St. Ignatius-Kirche
– allerdings nicht, um zu beten. Ein riesiger Kranz unangezündeter Kerzen hing über
dem Altar, der von der Form her an einen Refektoriumstisch erinnerte. In Wirklichkeit
handelte es sich um einen dieser zusammenklappbaren Tische, wie man sie im Haushalt
verwendet, etwa um Wäsche zu sortieren. Die Kanzel rechts daneben (von Farrokh aus
gesehen) war mit einem unpassend glänzenden Mikrophon ausgestattet, und auf dieser
Kanzel – eigentlich war es nur ein auf einem Podest stehendes Lesepult – lag ein
offenes Lektionar, aus dem der Vorleser vermutlich die Abendmesse lesen würde. Dr.
Daruwalla konnte der Versuchung nicht widerstehen hineinzuspitzen. Das Lektionar
war beim zweiten Paulusbrief an die Korinther aufgeschlagen.
»Daher erlahmt unser
Eifer nicht in dem Dienst, der uns durch Gottes Erbarmen übertragen wurde«, schrieb
der Bekehrte (2. Korinther 4.1). Farrokh übersprang ein Stück, bevor er weiterlas:
»Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum; wir
wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht; wir werden gehetzt und
sind doch nicht verlassen; wir werden niedergestreckt und doch nicht [545] vernichtet.
Wohin wir auch kommen, immer tragen wir das Todesleiden Jesu an unserem Leib, damit
auch das Leben Jesu an unserem Leib sichtbar wird.« (4.8–10)
Dr. Daruwalla schämte
sich. Er drückte sich in eine Kirchenbank in einem Seitenschiff – als wäre er, mit
seinem mangelnden Glauben, es nicht wert, im Hauptschiff zu sitzen. Seine Bekehrung
erschien ihm banal und sehr lange her; in seinen tagtäglichen Gedanken spielte sie
kaum noch eine Rolle. Vielleicht war er ja doch von einem Affen gebissen worden,
überlegte er. Er bemerkte, daß es in der Kirche keine Orgel gab. Dafür stand links
neben dem Klapptisch ein zweites, wahrscheinlich ebenfalls verstimmtes Klavier –
und darauf ein weiteres, unpassend glänzendes Mikrophon.
Von weit außerhalb
der Kirche drang der unablässige Lärm vorbeifahrender Mopeds an das Ohr des Doktors
– das Knattern ihrer schwachen Motoren, das entenähnliche Gequake ihrer höllischen
Hupen. Das hoch angebrachte Altarbild zog den Blick des Doktors auf sich: ein Christus
am Kreuz und die zwei vertrauten Frauengestalten, die ihn verzweifelt einrahmten.
Die Mutter Gottes und Maria Magdalena, wie Dr. Daruwalla annahm. Lebensgroße Heiligenfiguren,
alle aus Stein, schmückten die Säulen, die die Kirchenschiffe voneinander trennten.
Diese massiven Stützpfeiler trugen jeweils einen Heiligen, zu dessen Füßen sich
hin und her schwingende Ventilatoren befanden – schräg nach unten gerichtet, um
der Gemeinde Kühlung zu spenden.
Dr. Daruwalla machte
die gotteslästerliche Feststellung, daß sich eine der steinernen Heiligen von ihrer
Säule losgerissen hatte. Man hatte ihr eine dicke Kette um den Hals gelegt, die
mit einer riesigen Metallkrampe an der Säule befestigt war. Der Doktor hätte gern
gewußt, um welche Heilige es sich handelte, auch wenn er fand, daß alle weiblichen
Heiligen der Jungfrau Maria zum Verwechseln ähnlich waren – zumindest als Statuen. [546] Wer immer diese steinerne Heilige war, sie sah aus, als wäre sie symbolisch gehenkt
worden; doch ohne die Kette um den Hals hätte sie leicht kopfüber in eine Kirchenbank
fallen können. Dr. Daruwallas Schätzung zufolge war sie groß genug, um eine ganze
Bank mit Gläubigen zu erschlagen.
Schließlich verabschiedete
sich Farrokh von Martin Mills und den anderen Jesuiten. Auf einmal wollte der Scholastiker
unbedingt alle Einzelheiten über Dr. Daruwallas Bekehrung erfahren. Dieser vermutete,
daß Pater Julian Martin eine drollige und
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